Adrienne Mesurat
ihren Arm Adrienne um die Schultern, die ihr ein tränenüberströmtes Gesicht zukehrte.
»Sie glauben also«, sagte sie mit erstickter Stimme, »Sie glauben… es läßt sich einrenken?«
»Ja«, antwortete Madame Legras mit großer Bestimmtheit. »Aber ein wenig Mut, Himmelherrgott noch mal! Stehen Sie auf. Das Wichtigste ist, nicht den Kopf zu verlieren. Ach! Wenn ich nicht da wäre! Versuchen Sie, an etwas anderes zu denken… War dies hier das Zimmer Ihrer Schwester?«
Sie standen auf.
»Nein«, sagte Adrienne unwillkürlich, »es war Papas Zimmer.«
Sie hatte ihren Arm unter den von Madame Legras geschoben und ließ sie nicht mehr los.
»Das Zimmer von… Ah so! Möchten Sie, daß wir hinuntergehen, Kindchen? Wir werden uns in Ihr Zimmer setzen. Ich kümmere mich darum, daß Sie eine kleine Stärkung bekommen.«
»Sie wollen doch nicht gehen?« fragte Adrienne.
»Nein, wo denken Sie hin!«
Langsam gingen sie hinaus. Madame Legras streichelte die Hand des jungen Mädchens und drückte seinen Arm an sich.
»Sagen Sie mal«, begann sie, als sie die Treppe hinunterstiegen, »wie ich hörte, haben Sie neulich eine kleine Reise gemacht. Oh! das müssen Sie mir unbedingt erzählen, sobald es Ihnen besser geht. Und Sie haben nicht daran gedacht, mir eine Karte zu schicken, meine Liebste? Bin ich denn nicht mehr Ihre Freundin? Übrigens, wissen Sie, meine kleine Adrienne. daß ich Sie um eine Gefälligkeit bitten muß? Oh! entschuldigen Sie, daß ich ausgerechnet jetzt davon spreche, aber die Umstände zwingen mich dazu. Schuld ist nur die Post von heute morgen. Stellen Sie sich vor, ich habe eine Rechnung von einem Pariser Kaufmann erhalten. Und da ich augenblicklich in Geldverlegenheiten bin und wegen einer Lappalie von zwölfhundert Franc unmöglich eine Reise unternehmen kann… nun ja, da habe ich an Sie gedacht.«
»An mich?« fragte Adrienne, die nichts verstand.
»Aber natürlich, mein Kleines. Sie können sich ja denken, daß ich in Paris ohne weiteres zehn Leute finden würde, die mir diese kleine Summe gerne vorstrecken. Oh nein! Nicht mein Mann. Der hat im Augenblick zuviel Unannehmlichkeiten in seinen Spinnereien, aber Freundinnen, Freundinnen wie Sie, Adrienne. Und es ist auch nur für ein paar Tage. Ich selbst erwarte eine kleine Summe von zwei- oder dreitausend, die jeden Tag eintreffen muß. Ich bitte Sie wirklich vielmals um Entschuldigung, mein gutes Kind, aber wenn Sie mir aushelfen könnten…«
»Mein ganzes Geld ist beim Notar. Ich habe nur, was ich am ersten jedes Monats bekomme.«
»Aber Sie haben doch sicher Ersparnisse, mein liebes Kind. Oh! Natürlich würde ich Ihnen davon abraten, sie anzutasten, wenn es um etwas anderes ginge, aber in diesem Fall können Sie ganz beruhigt sein.«
In ihrer Stimme lag eine gewisse Ungeduld, und Madame Legras verhehlte sie nur schlecht. Adrienne trocknete ihre Augen und putzte sich die Nase.
»Ich weiß«, sagte sie.
Und fügte hinzu:
»Ich will nachsehen.«
Sie führte Madame Legras in ihr Zimmer und öffnete den Spiegelschrank.
»Stellen Sie sich vor, es ist eine Rechnung von meinem Kürschner«, sagte Madame Legras, während Adrienne nach ihrer Schatulle suchte. »Ich bitte Sie, als ob einem am vierzehnten Juli der Kopf danach stünde, eine Kürschnerrechnung zu bezahlen!«
Eine Weile herrschte Stille. Adrienne hatte ihre Olivenholzschatulle gefunden und öffnete sie mit dem kleinen Schlüssel, der an ihrer Uhr befestigt war.
»Hier«, sagte sie mit düsterer Miene.
»Aha!« rief Madame Legras.
Ihre Finger griffen in die Schatulle und holten die Röllchen mit den Goldmünzen hervor. In diesem Augenblick erinnerte Adrienne sich an die Worte ihres Vaters über das Geld, das sie Germaine geliehen hatte: »Du siehst es nie wieder. Das geht von deiner Mitgift ab.« Sie stieß einen Schrei aus und langte nach der Schatulle, aber Madame Legras riß sie an sich und hielt sie außer Adriennes Reichweite.
»Mein Gott, was Sie mir für einen Schreck einjagen!« rief sie. »Was ist denn in Sie gefahren?«
»Ich kann Ihnen dieses Geld nicht leihen«, sagte Adrienne mit erstickter Stimme. »Geben Sie es mir wieder!«
»Ich versichere Ihnen, daß es gut aufgehoben ist«, erwiderte Madame Legras und stand auf, die Schatulle unter dem Arm.
»Ich brauche es sofort, Madame.«
»Warum?«
Adrienne wurde feuerrot.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich muß es haben.«
»Wirklich?«, entgegnete Madame Legras ein wenig energischer. »Wissen Sie,
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