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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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Vater…«
    »Nein, nein«, fiel Adrienne, die den Kopf verlor, ihr ins Wort. »Wenn wirklich darüber geredet würde, hätte der Herr Doktor es mir gesagt…«
    »Ha! ausgerechnet der!« rief Désirée und lachte schallend. »Sie wissen ja nicht, daß er noch naiver ist als Sie. Also, der sieht alle nur von seiner Wolke aus. Und bildet sich ein, die Menschheit besteht aus lauter unschuldigen Lämmern. Einen komischen Verehrer haben Sie da, Mademoiselle! Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber die Kurzwarenhändlerin erzählt ja schöne Geschichten, die sie angeblich alle von Madame Legras hat. Haben Sie dieser Frau denn alles gesagt? Ach, was die Sache mit Ihrem Herrn Vater angeht, selbst wenn Sie das nicht erzählt hätten…«
    Sie verschränkte die Arme und setzte eine furchterregende Miene auf.
    »… selbst wenn Sie das nicht erzählt hätten, es wäre von ganz alleine aus der Erde gekrochen!«
    »Nein, nein«, schrie Adrienne und preßte ihre Fäuste an die Lippen. Und wie von einem Krampf geschüttelt, warf sie sich der Köchin zu Füßen, klammerte sich mit zitternden Händen an ihren Rock. »Ich gebe Ihnen alles, was ich habe, Désirée«, stammelte sie. »Haben Sie Mitleid mit mir, Désirée. Sie wissen doch, daß das alles nicht wahr ist. Mein Gott! Mein Gott!«
    Sie schleppte sich bis ans Bett, vergrub ihr Gesicht und legte die Hände über den Kopf.
    Etwas wie ein ersticktes Brüllen drang aus ihrem Mund.
    Es gibt Stunden, die man glaubt, nicht durchleben zu können. Man müßte sie überspringen können, sie auslassen und das Leben ein wenig später wiederaufnehmen. Warum all diese Ängste ausstehen? Sie machen einen nicht besser, bringen keine Lösung für die Schwierigkeiten des Augenblicks, sie sind fruchtlos und machen das Herz nur härter. So dachte Adrienne, während sie ausgestreckt auf dem Bett lag.
    Sie hatte die Vorhänge zugezogen und versuchte, wenn schon nicht zu schlafen, so doch Ruhe zu finden. Ihre Gedanken wanderten immer wieder in die Zukunft, mit dem verzweifelten Bemühen, nicht über die Ereignisse vom Vormittag nachzusinnen. »Vielleicht wird alles wieder gut«, sagte sie sich mit einer Hartnäckigkeit, die ebensoviel Feigheit wie Mut enthielt. Und das erschien ihr um so wahrscheinlicher, als es kaum Gründe gab, ernsthaft daran zu glauben. Sie lauschte auf alle Geräusche im Haus und auf der Straße. Marie Maurecourt mußte doch endlich kommen; sie würde das Gartentor öffnen, die Treppe heraufsteigen, sie würde mit Neuigkeiten hier eintreten, bestimmt mit Neuigkeiten, warum hätte sie sonst so darauf gedrängt, Adrienne zu sehen?
    Adrienne erwartete alles von diesem Besuch, die sofortige Erlösung von all ihrem Unglück, ein Wunder. Sie sah nichts anderes, sie sah nicht den kommenden Tag; was zählte, war einzig der Besuch Marie Maurecourts. Und in der entsetzlichen Qual ihrer Unruhe fand sie Sekunden närrischer Freude, unbändiger Freude bei dem Gedanken, diese Frau könnte ihr das Glück wiedergeben. Wie sollte sie ihr das Glück wiedergeben? Sie wußte es nicht. Sie dachte nicht einmal an das, was sie von Marie Maurecourts Charakter schon kannte, sie vertraute ihr blindlings ihr Glück an, weil niemand mehr da war, den sie um Hilfe bitten konnte. Alles übrige verschwand. Nichts gab es mehr auf der Welt als die Schritte dieser kleinen Frau, die sie auf dem Kies hören, und dann die paar Minuten, die sie mit ihr verbringen würde.
    Unwillkürlich griff sie an ihren Rockbund, als wolle sie die Uhr herausziehen, und in ihrer Verwirrung wunderte sie sich nicht einmal, daß sie keine Uhr dabei hatte; nur ihre Finger tasteten immer noch den Rockbund ab, fuhren über ihre Korsage und suchten nach der langen Goldkette, die sie gewöhnlich dort fanden.
    Nach einer Viertelstunde stand sie auf, fast außer sich vor Ungeduld. Als sie am Spiegel vorbeikam, warf sie wie unter Zwang einen Blick hinein. Mit ihren geschwollenen Lidern sah sie aus wie jemand, der schlecht geschlafen hat. Ihr Gesicht war bleich.
    »Mein Gott«, wimmerte sie, »sie muß doch kommen.«
    Sie ging bis zur Tür und preßte ihr Ohr dagegen. Seit Désirée heraufgekommen war, um mit ihr zu sprechen, hatte sie dieses Zimmer nicht mehr verlassen; sie hatte nicht zu Mittag gegessen. Es mochte drei Uhr sein. Sie horchte, den Kopf zur Seite geneigt; dann drehte sie unwillkürlich den Schlüssel herum. Um nichts auf der Welt wäre sie jetzt hinuntergegangen. Der Gedanke, die Köchin sehen zu müssen, lahmte sie, und

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