Adrienne Mesurat
Anrichte.
»Nichts«, sagte sie. »Das Glas auf den Photographien ist so schmutzig. Man kann kaum erkennen, was darunter ist.«
»Du mußt es mit etwas Alkohol putzen und mit einem trockenen Lappen polieren«, begann die Stimme nach einer Weile von neuem.
Dann war es einen Augenblick still.
»Sie werden immer gleich häßlich bleiben«, sagte Adrienne, als spräche sie mit sich selbst.
Auf einem der samtbezogenen Sessel sitzend, die aufgereiht an der Wand standen, betrachtete sie jetzt die beiden rechteckigen Flecke, die die Sonne auf den Teppich vor den Fenstern warf.
Sie ließ den Kopf hängen vor Langeweile, so wie andere Menschen vor Müdigkeit, ihre Schultern aber blieben gerade und ihr Oberkörper aufgerichtet. So wie sie dort saß, die Haare von einem Tuch umhüllt, eine blaue Schürze über dem Rock, hätte man sie zunächst für ein Dienstmädchen halten können, doch sie hatte einen gebieterischen Blick, der diesen Eindruck sogleich korrigierte. Sie war eine echte Mesurat, und trotz ihrer großen Jugend (sie war nicht älter als achtzehn) kündigte sich in ihrem Gesicht bereits jene Art von Herrschsucht an, deren Entfaltung man in den Zügen der Antoinette Mesurat, ihrer Großmutter, erkennen konnte. Zwischen den beiden Frauen bestand im übrigen eine so ungewöhnliche Ähnlichkeit, daß es beinahe zum Lachen war. Die Augen der Jüngeren waren jedoch heller, und der volle, schwellende Mund verriet eine Gesundheit, die man im weißen Gesicht der Ahnherrin vergebens gesucht hätte. Die noch rundlichen Wangen Adriennes hatten ihre kindliche Frische bewahrt und verliehen diesem Gesicht, in dem die innere Entschlossenheit doch so klar hervortrat, einen Anflug von Unschuld. Man mußte sie einige Zeit ansehen, bis man bemerkte, daß sie schön war.
Sie erhob sich und trat ans Fenster, um ihren Lappen auszuschütteln; dann stützte sie sich auf die Brüstung und warf einen Blick bis ans Ende der Straße. Bei dieser hochsommerlichen Hitze verließ kein Mensch das Haus, nur ganz selten ging jemand vorüber, im Schutz des spärlichen Schattens dicht an den Mauern. Eine Weile betrachtete sie die kümmerlichen Linden im Garten gegenüber, und fast gleichzeitig wanderten ihre Augen zur Villa Louise, einem Haus, das an der nächsten Straßenecke lag. Seine Fensterläden waren geschlossen. Es war ein Bau aus Kalksteinen, die durch schmale Klinkerstreifen unterteilt wurden, vom Stil her ziemlich pompös, mit einem kleinen Erkertürmchen und einem Dach aus bunten Ziegeln. Ihm gegenüber stand ein anderes, ganz weißes Haus mit Schieferdach, und als die junge Frau sich ein wenig vorneigte, sah sie, daß auch bei ihm die Fensterläden geschlossen waren. Schritte hallten über den Bürgersteig. Mit einer instinktiven Bewegung riß Adrienne sich das Tuch herunter, das ihr Haar verhüllte, und beugte sich hinaus; sie erkannte eine Nachbarin, die mit gesenktem Kopf, ein Einkaufsnetz am Arm, vorüberging, und schnell wich sie zurück, als fürchtete sie, gesehen zu werden, dann blieb sie, an den Fensterrahmen gelehnt, regungslos stehen, bis sich die Schritte entfernt hatten.
Abermals rief die Stimme nach ihr. Adrienne schlang sich das Tuch wieder um die Haare und verknotete die Zipfel im Nacken; dann ging sie in den Salon.
Ihr Blick wanderte durch den Raum und prüfte, ob alles in Ordnung war. Die in der Mitte des Zimmers kreisförmig angeordneten Lehnsessel und Stühle gaben diesem Teil des Hauses ein feierliches Aussehen. Zwischen den mittelmäßigen Bildern, mit denen die Wände bedeckt waren, schwärzliche
Landschaften und sorgfältig durch Glas geschützte Porträts, kam eine granatfarbene und mit violetten Disteln übersäte Stofftapete zum Vorschein. Die dunklen Holzmöbel ahmten die geschwungenen Linien des Régence-Stils nach und gehorchten zugleich jenem Sinn für Bequemlichkeit, der das Second Empire kennzeichnete; die breiten Lehnen, die soliden Beine, der dicke Plüsch luden zum Ausruhen ein und weckten Vertrauen.
Ein langes Kanapee war so nahe wie möglich ans Fenster gerückt worden, so daß es unmöglich war, die Person zu erkennen, die darauf ausgestreckt lag, aber diese Person hatte die Beine angezogen, und man sah ihre kleine, magere Hand, die auf den Knien ruhte. Sie war es, die kurz zuvor mit Adrienne gesprochen hatte.
»Du solltest das Blumenwasser wechseln«, sagte sie, sobald sie die Schritte des jungen Mädchens hörte.
»Ja, später. Ist Désirée nicht da?«
»Auf den Markt
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