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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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sie verwandte alle Kraft, die ihr geblieben war, darauf, sie aus ihrer Vorstellung zu verbannen. Wenn sie nur Marie Maurecourt wiedersehen könnte… Sie war davon wie besessen. Sie hatte ihr so vieles zu erklären, alles, was sie ihrem Bruder nicht hatte erklären können, alles, was ihren Bruder bestimmt überzeugt hätte. Marie Maurecourt gegenüber würde sie keine falsche Scham empfinden. Und außerdem war es ihre letzte Chance, das wußte sie, ihr Vorgefühl war untrüglich. Sie wollte mit dieser Frau sprechen, wie sie nie zuvor mit jemandem gesprochen hatte, in aller Offenheit, ohne Angst. Sie wollte ihr sagen: »Ja, ich möchte Ihren Bruder heiraten, ich bin jung, ich bin reich, einigermaßen reich. Wo kann er eine Partie wie mich finden? Und bin ich etwa häßlich?«
    Sie drehte sich zum Spiegel um und wiederholte die Worte flüsternd. Das Halbdunkel im Zimmer schmeichelte ihr nicht; sie ging ans Fenster und zog mit einem Ruck die Vorhänge zurück. Nun betrachtete sie sich noch einmal vor ihrem Schrank. Das Licht schien ihr fast von vorn ins Gesicht. Sicher war sie blaß, schrecklich blaß, aber ihr Blick fiel auf ihre Schultern, die so rund waren, daß sie ihre Korsage vorteilhaft ausfüllten, auf ihre vollen Arme, die sie ein wenig ausstreckte, dann aber herabsinken ließ.
    »Vielleicht bin ich nicht so schön, wie ich glaube«, sagte sie.
    Und sie versuchte, sich zu erinnern, wieviele Leute ihr gesagt hatten, daß sie schön sei. Madame Legras, wieder und wieder, aber Madame Legras hatte es auf ihr Geld abgesehen. Ihr Vater, einmal, ja, ihr Vater. Und dieser Arbeiter, der ihr in Dreux nachgegangen war. Aber er, Denis Maurecourt, wenn er sie schön gefunden hätte, wäre er dann nicht auf der Stelle in sie verliebt gewesen?
    »Ich bin sicher, er verstellt sich nur«, murmelte sie. Und ihr kam wieder in den Sinn, daß Madame Legras etwas Ähnliches gesagt hatte. »Außerdem liebe ich ihn viel zu sehr«, fuhr sie lauter fort, »ich liebe ihn viel zu sehr, als daß er mich nicht lieben müßte.«
    Sie fing ein endloses Räsonieren an, und plötzlich, von diesem ewigen Warten zermürbt, trat sie ans Fenster und ließ sich vor der Brüstung auf die Knie fallen.
    »Sie soll endlich kommen«, murmelte sie und schlug mit der Faust auf die Fensterbank.
    Mit einemmal hatte sie den Eindruck, daß alles von neuem begann, so als sei nichts geschehen, weder gestern noch an diesem Morgen. Wieder nahm sie sich vor, dem Doktor klarzumachen, daß sie ihn liebte, aber nur in ihr begann alles von neuem, weil in ihr nichts anderes war als diese Liebe, während um sie herum alles weiterging. Die Dinge entwickelten sich schnell, immer schneller. Die Leute redeten, handelten, alle möglichen Ereignisse bahnten sich an, während sie hier reglos verharrte. Sie schloß die Augen und preßte die Hände an die Ohren. Dieses verhaßte Dröhnen, sie hörte es wieder, irgendwo, tief in ihrem Kopf. Sie war immer noch die gleiche, mit den gleichen Qualen. Jemand sagte ihr: »Ich liebe Sie nicht«, und es änderte nichts.
    In diesem Augenblick sah sie Marie Maurecourt die Straße überqueren und geradewegs auf die Villa des Charmes zukommen. Adrienne sprang schnell auf und versteckte sich hinter der Wand. Ihr Herz pochte. Sie ahnte plötzlich, da2 sie von diesem Besuch nichts zu erhoffen hatte, und ging hinunter.
    Mit energischen Schritten betrat Marie Maurecourt den Salon, in dem Adrienne saß. Wie immer trug sie Kleider, die einer kräftigeren Person gehört zu haben schienen, so locker hingen sie an ihrem mageren Körper. Ihren schwarzen Strohhut, rund und mit schmaler Krempe, zierte eine schwere Weintraube in derselben Farbe, und obwohl es ganz ungewöhnlich heiß war, hatte sie eine lange Jacke aus blauem Serge über ihre Bluse gezogen; in der Hand hielt sie wieder die abgewetzte kleine Tasche, aus der sie bei ihrem letzten Besuch Adriennes Briefe hervorgeholt hatte. Vielleicht hatte sie nicht erwartet, das junge Mädchen im Salon anzutreffen, denn sie zuckte zusammen, als sie Adrienne sah, und errötete ein wenig.
    »Ich habe heute morgen versucht, Sie zu sprechen«, sagte sie grußlos. »Es war nicht möglich. Sicher hatten Sie diesbezügliche Anweisungen gegeben. Auf jeden Fall wird das, was ich Ihnen zu sagen habe, nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, und Sie werden mich anhören.«
    Ihre Stimme klang hart und verängstigt. Ein unausgesetztes Zittern bewegte ihren Kopf und ließ die schwarzen, taftenen Weinblätter auf ihrem Hut

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