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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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daß es nicht gerade freundlich ist, was Sie da tun? Nachdem Sie mir diesen Betrag versprochen, ihn mir ausgehändigt haben…«
    »Ich werde es Ihnen erklären«, sagte Adrienne, die den Kopf verlor.
    »Ich höre, Adrienne.«
    »Wenn ich einmal heirate …«, begann Adrienne mit gequälter Stimme.
    Sie stockte und schlang die Hände ineinander; ein Stöhnen hob ihre Brust.
    »Aber sie werden doch nicht schon diese Woche heiraten«, sagte Madame Legras und stellte die Schatulle auf einen Stuhl neben sich.
    »Glauben Sie, daß ich einmal heiraten werde?« fragte das junge Mädchen nach einer Weile.
    »Mein liebes Kind«, hob Madame Legras im Tonfall einer Person an, die wieder etwas Vernunft in ein Gespräch bringen will, »wir sprechen von zwei verschiedenen Dingen. Ich bitte Sie, mir Geld zu leihen, Sie geben es mir, das heißt, Sie leihen es mir, dann wollen Sie es zurückhaben unter dem Vorwand, Sie brauchten es, um heiraten zu können. Lassen Sie sich gesagt sein, daß man nicht so schnell heiratet, wie Sie sich das vorstellen. Sie bekommen dieses Geld im Laufe der Woche wieder. Aber das alles ist ja lächerlich! Ich frage mich, wo uns der Kopf steht.«
    Sie nahm die Schatulle wieder in die Hand und wickelte die Röllchen auf.
    »Zählen wir erst einmal dieses Geld«, sagte sie.
    Adrienne starrte wortlos auf die kurzen, spitzen Finger, die mit den Nägeln die Zwanzig-Franc-Münzen flink aus ihrer Papierhülle schälten. Madame Legras überprüfte den Inhalt jeder einzelnen Rolle.
    »Fünftausendzweihundert«, sagte sie. »Mein Kompliment! Damit wären wir ja hübsch reich! Ich nehme meine zwölfhundert Franc, Kleines. Soll ich Ihnen eine Quittung ausstellen? Nein, oder? Ich sage Ihnen, das ganze ist eine Angelegenheit von zwei, höchstens drei Tagen. Wenn Sie wüßten, wie sehr Sie mir helfen! Ich werde es Ihnen bestimmt nie vergessen.«
    Noch während sie so redete, hatte sie sechs Röllchen mit Goldmünzen in ihrer Handtasche verschwinden lassen und blickte das junge Mädchen von der Seite an.
    »Sie werden sehen, Adrienne«, sagte sie. »Eines Tages brauchen Sie mich vielleicht wieder, und dann… Hm?«
    Und da das junge Mädchen keine Antwort gab, stellte Madame Legras die Schatulle zusammen mit ihrer Tasche wieder auf den Stuhl und setzte eine ernstes Gesicht auf.
    »Adrienne«, sagte sie.
    Aber man hätte glauben können, daß Adrienne langsam in einen Traum hinüberglitt, und obwohl ihre Augen geöffnet blieben, blickten sie starr geradeaus und schienen nicht mehr zu sehen, was vor ihnen geschah.
    Beunruhigt fuhr ihr Madame Legras mit den Fingern über die Stirn.
    »Also«, sagte sie halblaut, »was hat sie denn nun schon wieder?«
    Mit einer ungeduldigen Bewegung ergriff sie die Hand des jungen Mädchens.
    »Hören Sie denn nicht, was ich sage, Adrienne? Adrienne! Nein, so was!«
    Sie nahm ihre Tasche, stand auf, dann blickte sie das junge Mädchen an und schien zu überlegen.
    »Wenn ich Ihnen nun sagte, daß ich mir statt der zwölfhundert Franc fünfzehnhundert borge?« fragte sie plötzlich.
    Sie griff nach der Olivenholzschatulle und hielt sie Adrienne mit vor Aufregung leicht zitternder Hand entgegen; aber diese schien es nicht zu bemerken.
    »Das ist ja ein starkes Stück«, murmelte Madame Legras verblüfft.
    Sie wartete eine Sekunde, stellte die Schatulle dann auf den Tisch und öffnete sie, ohne Adrienne aus den Augen zu lassen.
    »Also gut«, fuhr sie fort, »ich nehme mir noch dreihundert zu den fünfzehnhundert dazu, die Sie mir liebenswürdigerweise geliehen haben. Sehen Sie, ich stecke sie in meine Tasche.«
    Und sie tat, was sie gesagt hatte. Dann blieb sie reglos, unschlüssig neben dem Tisch stehen.
    »Mein Gott, jetzt jagt sie mir wirklich Angst ein!« murmelte sie endlich. »Man könnte meinen, daß sie mich ansieht, und wenn ich mit ihr spreche…«
    Sie betrachtete das junge Mädchen mit einer Mischung aus Entsetzen und Ekel.
    »Warum kann sie mich nicht sehen?« sagte sie in ihrer Verwirrung halblaut. »Sie ist doch nicht krank? Sie hört auch nichts.«
    Sie rief: »Adrienne!« erhielt aber keine Antwort.
    Plötzlich raffte sie aus der Olivenholzschatulle die noch übrigen Röllchen mit den Goldmünzen und stopfte sie in ihre Tasche. Ihre Augen leuchteten. Geräuschlos stellte sie die leere Schatulle auf den Tisch zurück, dann trat sie nahe an Adrienne heran und blieb einen Augenblick neben ihr stehen. Seit ein paar Sekunden wurde ihr Blick von der goldenen Halskette angezogen, an

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