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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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dieser Welt. Auch der Wahnsinn am Ende ist keine Psychologie, er ist der endgültige Rückzug aus dem unbegreiflichen Grauen des Daseins. Begreifen tun die Erwachsenen; sie sind es, die die Welt verstehen, in ihr handeln und sie sich gefügig machen. Madame Legras ist ihr leuchtendstes Beispiel, sie, die im Augenblick von Adriennes größter Verzweiflung noch die Gelegenheit erkennt, diese nicht nur um ihr Geld, sondern auch noch um ihre Kette zu erleichtern, also symbolisch um ihren letzten irdischen Besitz. Und sie ist es, die unrettbar verloren bleibt.
    Ist auch Adrienne, die Mörderin, verloren? Oder ist ihr Wahnsinn am Ende nicht eher eine paradoxe Form der Rettung? Die Frage muß offenbleiben. Ein Mensch ohne Erinnerung an den eigenen Namen ist ein Mensch, der alles verloren hat, was die Identität des Erwachsenen ausmacht. Adrienne verläßt die Welt, in der sie nicht leben kann. Eine Antoinette Mesurat wird sie nicht werden, aber auch sie hat »früh – so als habe die mit ihrem Werk zufriedene Natur beschlossen, nichts mehr daran zu verändern – das Gesicht bekommen, das sie ein Leben lang behalten« wird, das Gesicht eines einsamen Kindes.
    Julien Green hat zeitlebens ungnädig reagiert, wenn man seinen Glauben und seine Kunst in eine allzu enge Beziehung setzte. »Ich bin Katholik und ich bin Schriftsteller. Ich bin kein katholischer Schriftsteller.« Und doch enthält auch dieser Satz nur die halbe Wahrheit. Gewiß war Green kein katholischer Schriftsteller im Sinne des Erbauungsromans, auch nicht in dem von François Mauriac oder Georges Bernanos. Beichten, Bekehrungen, Bußen, all das gibt es bei ihm nicht. Ein religiöser Schriftsteller ist er, trotz allem, jedoch immer gewesen. Keines seiner Werke ist wirklich zu verstehen ohne die theologischen Grundbegriffe, die es von seinem Innersten her durchdringen. Die Passion in ihrem religiösen Sinne, die Gleichsetzung von Leiden und Leidenschaft, ist das, was die frühen Romane antreibt. Der gänzlich von Leidenschaften beherrschte Mensch ist der völlig diesseitige Mensch, und damit der Mensch, aus dem die Kunst des Erzählens lebt: »Man macht einen Roman aus der Sünde, so wie man einen Tisch aus Holz macht.«
    Die Meisterschaft und die Rätselhaftigkeit von Greens frühem Werk besteht darin, daß hier einem modernen, ganz gegenwärtigen Werk zeitlose Topoi eingeschrieben sind, doch so, daß es fast unmöglich ist, sie in der Erzählung, der Handlung dingfest zu machen. Kaum glaubt der Interpret, etwas wie den theologischen Gehalt von Adrienne Mesurat gefunden zu haben, da entzieht er sich ihm bereits, wird aufgesogen von der erzählerischen Kraft, der reinen Immanenz des Geschehens. Nichts gibt es in Adrienne Mesurat, was bloß Bedeutung, Gehalt wäre, und nichts gibt es, was nicht zugleich mehr wäre als bloße Romanhandlung. Und gerade weil das religiöse Grundmotiv alles Bekenntnishafte verweigert, weil es nur mehr als Leerstelle, als rätselhaftes Leuchten noch vorhanden ist, gerade weil die künstlerische Gestalt jedes bloße Bedeuten und Meinen vollkommen in sich verschwinden läßt, bleibt Julien Green vielleicht der einzige, der im zwanzigsten Jahrhundert imstande war, das Erbe des großen religiösen Romans anzutreten, – und auch gerade weil ein Werk wie Adrienne Mesurat selbst kein religiöser Roman ist, sondern vor allem eines: ein vollendetes Kunstwerk.
     
    Wolfgang Matz
     

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