Adrienne Mesurat
Notar am Ende des Monats, dazu noch fünftausendzweihundert an Ersparnissen«, sagte sie, »das könnte den Grundstock für meine Mitgift bilden. Und dann kann ich mir immer noch da und dort etwas leihen, von Madame Legras, von den Maurecourts. Der Notar wird mir bestimmt ein oder zwei Monate vorstrecken. Ich brauche Geld. Ohne Geld kann man nicht heiraten. Papa hilft mir sicher. Und wenn er sich weigert, nehme ich mir meinen Teil, wie Germaine, als sie fortging. Ich nehme mir, was von Mamas Schmuck übrig ist. Kein Gesetz verbietet das. Der Schmuck gehört auf jeden Fall mir, denn Papa ist tot, und das ist mein Erbteil. Und was zum Teufel soll ein Mann damit anfangen? Damenringe und Halsketten. Papa kann sie ja doch nicht tragen!«
Sie lachte leise in sich hinein und fuhr fort:
»Und Germaine soll ein für allemal wissen, daß ich mir nicht nachspionieren lasse. Ich werde kommen und gehen, wie es mir paßt. Und sollten sie noch einmal auf den Gedanken verfallen, dieses Tor abzuschließen, und mich am Spazierengehen hindern, lasse ich mir einfach einen Schlüssel machen, für mich allein, ja, für mich!«
Sie blickte sich um und wiederholte energisch: »Für mich. Und ich werde in Germaines Zimmer gehen, wann ich will. Einmal schuldet sie mir fünfhundert Franc, und solange sie die nicht zurückzahlt, werde ich ihr Zimmer benutzen. Verstanden?«
Dieses letzte Wort war an eine alte Frau gerichtet, die auf der anderen Straßenseite gerade aus einem Haus trat und den Schritt beschleunigte, als sie Adrienne in ihre Richtung gestikulieren sah.
»Gehen Sie doch!« schrie die Verrückte. »Sie haben ja nur Angst, Sie auch! Sie tun gut daran zu laufen! Sie tut gut daran zu laufen«, fügte sie halblaut hinzu, als die Alte schon fort war. »Heute soll mir keiner auf dem Kopf herumtanzen. Ich habe genug von all diesen Schlampen!«
Und plötzlich brach ein Schwall vulgärster Flüche aus ihrem Mund. Mit schrecklicher Leidenschaft schrie sie abscheuliche Worte hinaus, die sie lustvoll wiederholte, Worte, deren Sinn sie vielleicht nie verstanden hatte und die nun durch ihr unglückliches Gehirn spukten, wo alles in einer grauenhaften Verwirrung durcheinandergeriet. Wild fuchtelte sie mit den Armen durch die Luft und ging immer schneller. Ihre Wut war einer jähen Heiterkeit gewichen, und jetzt lachte sie, ein tiefes und schauriges Lachen.
Auf einmal blieb sie stehen. Sie war dem Ort, wo der Ball stattfand, so nahe gekommen, daß die laute Musik den Klang ihrer Stimme übertönte. Ganz am Ende der Straße konnte sie eine Ecke des Platzes und Girlanden mit kleinen Lichtern sehen, die sich von Baum zu Baum spannten. Paare tanzten. Sie schaute, dann machte sie noch ein paar Schritte. Die Leute tanzten feierlich, mit schwerfälligen Bewegungen. Ihre ganze Haltung verriet das Bemühen, keinen Fehler zu machen, den Takt zu halten; und all diese Füße erzeugten auf den Pflastersteinen des Platzes eine Art rhythmisches Murmeln, gegen das die Kapelle nicht mehr aufkam, sobald die Musik leiser wurde. Und diese Musik kannte Adrienne. Immer war es derselbe Walzer, von dem die Leute nicht genug bekamen, mit jenem Zögern, das unaufhörlich wiederkehrte. Frauenstimmen sangen den Text, hohe Stimmen:
Ich liebe Sie nicht, oder nur in einem Traum…
Adrienne lauschte. Mit herabhängenden Armen stand sie mitten auf der dunklen Straße; sie hielt den Kopf ein wenig vorgestreckt und schien alles, was sie hören konnte, aufmerksam zu verfolgen. Die hellen Lichter des Balls schüchterten sie ein, sonst wäre sie näher herangetreten. Aber der Walzer ging zu Ende. Beifall brach los, und die Paare trennten sich unter Gelächter und vergnügten Ausrufen, vor denen Adrienne zurückwich. Mitten in der allgemeinen Ausgelassenheit schrie eine Männerstimme: »Hoch Fallières!«
Adrienne wich noch weiter zurück. Sie glaubte, Leute kämen auf sie zu, und plötzlich machte sie kehrt und begann zu laufen, von einer Angst gepackt, die nicht begründeter war als ihr Zorn von vorhin, nicht begründeter als ihr Lachen. Sie bog in eine kleine Gasse, die aufs Land hinausführte. Ihr Herz pochte. Mit erstickter Stimme murrte sie etwas vor sich hin und lief schneller.
Bald war sie auf der großen Landstraße. Der Lärm des Festes drang noch bis zu ihr. Sie hielt sich die Ohren zu und lief weiter. Ihre Schritte hallten auf dem Steinpflaster. Die Bäume links und rechts hoben sich kaum vom Himmel ab, wo Myriaden von Sternen flimmerten. Die Nacht war schwarz;
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