Adrienne Mesurat
Nähe des Fensters auf einen Stuhl und hob die Augen zum Himmel, der immer tiefer zu werden schien, je mehr er sich verdunkelte. Der Schrei eines Vogels zerriß die Stille und hallte ein paar Sekunden nach, sehr laut und sehr fern, wie ein Schrei aus Angst vor der Nacht. Alle mögliche Düfte stiegen aus den umliegenden Gärten auf, schwere Gerüche, wie die Blumen sie erst in der kühleren Luft der Abenddämmerung verströmen. Kein Hauch war zu spüren. Nicht das leiseste Geräusch drang von der Straße oder den Nachbarhäusern herüber, von denen eines oder zwei die Trikolore gehißt hatten. Dieser Teil der Stadt war wie ausgestorben. Fast eine Viertelstunde verging.
Ein dumpfer Lärm kam unterdessen von der Stadt her, gleich darauf konnte Adrienne einen leuchtenden Streifen sehen, der hinter der Villa Louise emporstieg und plötzlich in einen Funkenregen zerstob, so daß er wie eine riesige Blume aussah. Grelles Licht erfüllte für eine Sekunde den Himmel und warf einen gelben Schimmer auf das Gesicht des jungen Mädchens. Adrienne blinzelte und spitzte die Ohren, um die bewundernden Rufe zu hören, die das Feuerwerk begleiteten. Noch mehr Raketen wurden abgeschossen, silberne Garben, dann wieder Spiralen mit immer breiteren Windungen, wie eine auseinandergezogene Feder, andere dagegen zischten pfeilgerade in die Höhe und streuten plötzlich eine Unzahl kleiner Goldpünktchen zwischen die Sterne. Die letzte hatte die Form eines gewaltigen blauweißroten Buketts und entlockte den Zuschauern ein lautes »Ah!« der Überraschung und Freude, dessen Widerhall bis zur Villa des Charmes drang.
Adrienne rührte sich nicht. Sie hatte die Hände im Schoß übereinander gelegt und schien ganz von dem Schauspiel gefangen, das vor ihren Augen abrollte, denn die großen Lichtstreifen hatten schließlich ihre Aufmerksamkeit gefesselt und ihre Blicke auf eine Stelle über dem Dach der Villa Louise gelenkt. Mit einer leichten Kopfbewegung folgte sie der Flugbahn der Raketen und starrte auf den Punkt, wo sie explodierten, bis die nächste ein neues Bild an den Himmel malte. Lange nachdem das blauweißrote Bukett sich entfaltet hatte, wartete sie noch und saß reglos da.
Auf einmal hörte sie ein Militärorchester spielen. Es war eine bald fröhliche, bald schwermütige Musik, doch nur die vergnügten und schnellen Teile erreichten Adriennes Ohr. Sie lauschte. Das Stück war nicht lang und sollte offenbar nur ein kleiner Vorgeschmack sein. Gleich darauf folgte ein Walzer, dessen erste Takte von einem genießerischen Raunen begrüßt wurden. Die Melodie war auch wirklich sehr bekannt. Die ganze vergangene Saison hindurch war sie gespielt, gepfiffen, gesungen worden, bis auch der letzte im Land den langsamen, gefühlvollen Rhythmus kannte.
Adrienne stand auf. Mehr als einmal hatte sie Madame Legras den Text dieses Walzers vor sich hin trällern hören. Vielleicht erinnerte sie sich daran? Nein. Kein Gedanke, keine Regung war in ihrem Gesicht zu lesen. Sie wandte sich dem Zimmer zu und atmete ein-, zweimal tief ein. Dann machte sie trotz der Dunkelheit ein paar Schritte in den Salon; plötzlich stieß sie gegen ein Möbel und schrie gellend auf. Einen Augenblick verharrte sie bewegungslos, dann ging sie weiter und verließ den Salon.
Ihre Schritte wirkten etwas zögernd, während sie die Außentreppe hinabstieg, und auf dem Gartenweg blieb sie mit gerunzelten Brauen stehen, als würde sie irgend etwas stutzig machen, etwas am Himmel oder in den Bäumen, was sie nicht ganz verstand. Ihr Blick war beinahe ärgerlich, aber dann ging sie zum Tor. In diesem Moment begann sie mit sich selber zu sprechen. Was sie sagte, war fast unverständlich, aber ihr gelassener, gleichgültiger Tonfall und eine gewisse Geschwätzigkeit wollten nicht recht zueinander passen.
Sie öffnete das Gartentor und zog es hinter sich wieder zu, dann überquerte sie die Straße, ohne mit ihrem Gemurmel aufzuhören. Jetzt war die Erde ganz schwarz, und man konnte fast nichts mehr sehen, doch Adrienne ging mit schnellen Schritten dahin und erreichte bald die Straße, die ins Dorf führte. Im dämmrigen Licht, das vom Himmel fiel, war ihr schönes Gesicht aschfahl, und große Schatten vertieften die Augen, höhlten die Wangen. Vollkommene Undurchdringlichkeit verhärtete ihre Züge, so daß sie einem Marmorbild glich. Alles Menschliche war aus dieser bleichen Stirn gewichen, aus diesen blutleeren Lippen, die ohne Unterlaß redeten.
»Fünfhundert Franc vom
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