Adrienne Mesurat
oder besser: wird aus Adriennes Empfinden heraus empfunden. Von den Regungen der anderen Personen erfahren wir nur das, was Adrienne von ihnen erfährt. Das Innere von Monsieur Mesurat, von Madame Legras kennen wir nur, soweit es sich nach außen hin zeigt, das Innere Adriennes prägt den Roman bis in die Details der Sprache. Bis ins Kleinste reflektiert Greens Wortwahl die Perspektive Adriennes. Wenn das junge Mädchen am Abend den Schritten des Vaters im dunklen Hause lauscht, so lauscht auch der Erzähler mit ihren Ohren in die Nacht, und konsequent macht sich Monsieur Mesurat daran, die Treppe vom Erdgeschoß zum ersten Stockwerk »heraufzusteigen«, während es nach dem Gutenachtgruß dann heißt: »Die Schritte entfernten sich, stiegen bis zum letzten Stockwerk hinauf, in dem Monsieur Mesurat sein Zimmer hatte.« Diese minutiöse Genauigkeit gliedert den Raum des Romans von einem Mittelpunkt aus, in dem ausschließlich Adrienne steht.
Noch verblüffender jedoch ist der Umgang des jungen Green mit der Zeit. Oberflächlich gesehen folgt er dem ganz und gar linearen Schema des traditionellen Romans. Der Sog des Geschehens, das dem Leser so wenig wie Adrienne eine Atempause gönnt, täuscht aber darüber hinweg, daß der Zeitfluß höchst ungleichmäßig ist. In weiten Teilen gehorcht er einem konventionellen Erzählrhythmus, der das Wichtige betont, das Unwichtigere nur andeutet und dabei schnell eine Stunde in einem Satz zusammenfaßt. Dann aber kommt es plötzlich zu einer extremen Verlangsamung, die sich ganz und gar nach Adriennes Impulsen richtet; in manchen Augenblicken entwickelt sich der Text gleichsam in »Echtzeit«, die Zeit von Adriennes Erleben wird identisch mit der Zeit des Schreibens, dem Erleben des Autors selbst. Nächtliche Stunden der Versunkenheit, Adriennes Herumirren durch die unbekannten Nachbarorte, das sind Szenen, in denen die Wirklichkeit des Romans die Vorstellung von einer objektiven, regelmäßig ablaufenden Zeit aufhebt und an ihre Stelle eine vollkommen innerlich gewordene Zeiterfahrung setzt. Die Zeit von Adrienne Mesurat ist durch keine Uhr zu messen, ihr Maß ist ausschließlich die Subjektivität des jungen Mädchens, die ihrerseits zusammenfällt mit der Subjektivität des Autors. Und so gehorcht der dritte Teil nun plötzlich einer beschleunigten, hektischen Bewegung, in der sich nur mit Mühe die Abfolge der letzten Tage rekonstruieren läßt. Gewaltsame Verlangsamungen wechseln mit Sprüngen vom Abend bis in den nächsten Vormittag, endlos scheinendes Warten mit gleichsam protokollierten, miterlebten Gesprächen. Deutlicher als im ausgesprochenen Wort kündigt sich in diesem flackernden, erregten Hin und Her die wachsende Verstörung Adriennes und ihr schließliches Ende an.
Die beherrschende Stellung der Hauptfigur ist in Adrienne Mesurat also nicht einfach eine Frage der Handlungskonstellation. Sie ist das ästhetische Prinzip des Romans selbst, das ihn sprachlich und formal bestimmt. Und gerade darin war das Buch von unerhörter, unkonventioneller Neuigkeit. Die Abschaffung des allwissenden Erzählers – ein Hauptpunkt der literarischen Moderne – geschieht hier gleichsam unterirdisch, verborgen unter dem Mantel des traditionellen Romans. Green weiß nur, was Adrienne weiß, Adrienne aber weiß nichts von sich selber. Bewußtslos stürzt sie auf ihren Untergang zu, den der Romancier aufzeichnet, ein Seismograph des Verhängnisses, der, um dieses mit klarem Blick, ohne Pathos, ohne Sentimentalität zu registrieren, nicht vorgeben muß, mehr von ihm zu verstehen als seine Heldin. Die Identifikation des Autors mit seiner Heldin ist vollkommen; aber nicht als wirkliche, autobiographisch verstandene. Im Schreiben erschafft Julien Green Adrienne, und im Schreiben verwandelt er sich restlos in sie. Green hat gewußt, weshalb er Flauberts berühmtes Wort »Madame Bovary, c'est moi« auf sich und seinen Roman anwandte. Bewußtlos geht auch er auf das Ende zu; Julien Green hat berichtet, auch er selbst habe erst auf den allerletzten Seiten begriffen, daß Adrienne im Wahnsinn enden werde, nachdem er lange Zeit geglaubt habe, sie werde sich das Leben nehmen. Traditionelles Erzählen gestaltet ein Geschehen, das bereits geschehen vor ihm liegt; bei Green dagegen geschieht das Geschehen in dem Augenblick, da er schreibt, und indem er schreibt. Daß diese Bewußtlosigkeit, dieses Nicht-Wissen des Autors einhergeht mit der allerhöchsten künstlerischen Bewußtheit in der
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