Adrienne Mesurat
Kindheit angeblich besteht, wo waren ihre Ferientage? Von einem Vater erzogen, der nur für seine eigene Behaglichkeit lebte, und einer Schwester, die nur an ihre Krankheit dachte, war sie schnell hart und gleichgültig geworden. Der Anblick von Germaines gerunzelter Stirn hatte sie gelehrt, nicht sehr häufig zu lachen und wenig zu sprechen, und sie wuchs heran in der ständigen Sorge, dem alten Mesurat zu mißfallen, der weder Tränen noch Schmollen duldete. In dieser Schule formte ihr Wille sich schnell, und was an Trübsinn und Hochnäsigkeit, oder kurz gesagt an Eigenschaften der Mesurais, in ihr war, gewann die Oberhand über alles andere, also die Lécuyersche Seite. Eine frühzeitige Strenge ließ ihren Mund schmal werden, zog die gerade Linie der Augenbrauen nach unten, gab dem Gesicht dieses angespannte und zugleich verschlossene Aussehen, das für ihre Familie offenbar kennzeichnend war.
Mit sechzehn Jahren erweckte sie den Eindruck, jene seelische und körperliche Physiognomie erreicht zu haben, die sie für immer behalten sollte. Ohne Freundinnen, ohne den erkennbaren Wunsch, sich mit irgendwem anzufreunden, besuchte sie die Volksschule Sainte-Cécile, in welche sie von ihrer Schwester geschickt wurde, antwortete ihren Lehrerinnen, die sie über den Unterrichtsstoff ausfragten, und kam nach Hause, um dann allein im Garten umherzuspazieren oder sich in ihrem Zimmer einzuschließen. Nichts machte Eindruck auf sie; sie fürchtete sich vor nichts, und nichts zog sie an. Nur Langeweile und eine Art unzufriedene Resignation waren in ihren Gesichtszügen zu lesen.
So vergingen die Jahre in tiefer Eintönigkeit. In der Villa des Charmes folgten die Stunden dem Rhythmus, den Germaine und Monsieur Mesurat ihnen gaben, und das Leben bestand nur noch aus einer Reihe von Gewohnheiten, von Bewegungen, die man zu einer bestimmten Tageszeit ausführte. Jede Veränderung wäre als anarchistisch empfunden worden. Zerstreuung war unmöglich, und als gehorche sie einem unausgesprochenen Befehl, verfügte auch Adrienne allmählich peinlich genau und so rigide wie in einem Kloster über ihre Zeit. Auch sie verspürte das Bedürfnis, ihre Aufgaben zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt zu erfüllen, aber durch einen eigentümlichen Widerspruch mißfiel ihr dies zugleich, und sie glich einer Nonne, die zwar ihren Glauben verloren hat, sich für die Ordensregel jedoch eine Art mürrische Anhänglichkeit bewahrt, weil es nun einmal die Regel ist, für die sie sich einst entschieden hat.
Adrienne wurde achtzehn Jahre alt, ohne daß irgendein Ereignis, ob erfreulich oder schlimm, dem Lauf ihres Lebens eine andere Richtung gab. Wenn Besuch da war, rief ihr Vater sie oft herunter; dann behielt er sie ein paar Minuten bei sich, umfing sie mit einem glücklichen Blick, denn er war stolz auf sie und fand sie schön, und wenn er dann der Meinung war, sein Besucher wisse nun über das hübsche Aussehen seiner Tochter hinreichend Bescheid, schickte er Adrienne wieder weg, als wäre sie ein Kind. Es ist eine häufig zu beobachtende Tatsache, daß die Welt, die gesamte Menschheit, in den Augen der Alten aufhört, sich zu entwickeln und zu verändern. Zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens bleibt alles stehen und erstarrt, und Adrienne, die fünfzehn Jahre zählte, als Monsieur Mesurat siebenundfünfzig war, kam im Kopf ihres Vaters über dieses Alter nie hinaus.
Es mag recht verwunderlich scheinen, daß die Frage von Adriennes Heirat niemals angesprochen wurde, doch abgesehen von der Tatsache, daß Germaine sich keine Gedanken darüber machte und Monsieur Mesurat nichts davon wissen wollte, zeigte auch das junge Mädchen offenbar keinerlei Interesse. Verlief das Leben nicht auch so sehr gut? Wozu es unbedingt komplizierter machen?
Verschiedene Partien hatten sich angeboten, denn die Mesurats waren nicht unvermögend, aber diese Männer, deren ganzes Wesen den Stempel der Kleinstadt trug, Söhne von Notaren oder Kaufleuten, hatten schlechterdings unmöglich gewirkt und ihre Anträge so befremdlich wie die Anträge von Verrückten. Adrienne konnte sich gar nicht vorstellen, wie das Leben in Gesellschaft eines dieser Männer aussehen mochte, es reizte sie zum Lachen; Monsieur Mesurat verdrängte mit aller Kraft den Gedanken, seine Tochter, die er nun schon so lange um sich hatte, aus dem Haus gehen zu lassen, und lachte ebenfalls, als habe man ihm einen bodenlosen Unsinn vorgeschlagen, den man nun wirklich nicht ernst nehmen konnte. Was
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