Adrienne Mesurat
Hunde.
Sie lauschte, schaute, schien auf etwas zu warten. Als die Straße sich wieder verdunkelte, sog sie schließlich mehrere Male die frische Luft ein, und nachdem sie einen letzten Blick auf das Haus geworfen hatte, das in die Nacht zurückzuweichen schien, schlug sie die Augen nieder und machte sich auf den Heimweg.
Als sie durch den Salon ging, um sich ein Buch zu holen, weckte das Geräusch ihrer Schritte den Vater, der in seinem Lehnsessel schlief. Er streckte eine Faust zum Plafond hinauf und gähnte.
»Warst du draußen?« fragte er.
Sie blickte ihm gerade in die Augen.
»Nein«, sagte sie, »du hast geschlafen.«
»Das stimmt. Wie spät mag es sein?«
»Ich weiß nicht.«
Sie nahm ein Buch vom Sekretär und zog sich zurück.
Vor ihrer Türschwelle angelangt, blieb sie, entgegen ihrer Gewohnheit, kurz im Flur stehen und horchte auf die Geräusche im Haus. Unten vergewisserte sich der alte Mesurat, daß Tür und Fensterläden ordentlich geschlossen waren. Sein schwerer Schritt stampfte von einem Raum in den anderen und ließ die Dielenbretter erbeben. Er hustete. Bald schon hörte sie, wie er mit kräftigem Atem die beiden Lampen im Salon auspustete, und gleich darauf begann er, einen Opernmarsch zu summen. Sie wußte, daß er nun bald nach oben kommen würde, trat in ihr Zimmer, dessen Tür sie leise hinter sich schloß, und verharrte einen Augenblick in der Dunkelheit. Im gleichen Moment machte sich Mesurat daran, die Treppe heraufzusteigen. Seine Hand stützte sich energisch auf das Geländer, und die Holzstäbe gaben nach mit einem Knarren, das Adrienne nur allzugut kannte. Als er an der Tür seiner Tochter vorüberging, schlug er mit der Faust gegen die Füllung und rief:
»Gute Nacht!«
Sie zuckte zusammen, gab aber keine Antwort. Diese Stimme, auf deren Klang sie gewartet hatte, war ihr so unerträglich wie eine Berührung. »Ah!« entfuhr ihr ein ungeduldiger Seufzer, dann zündete sie die Lampe an. Die Schritte entfernten sich und stiegen bis zum letzten Stockwerk hinauf, wo Monsieur Mesurat sein Zimmer hatte.
III
Jetzt war im ganzen Haus nichts mehr zu hören. Von der Straße drang kein Laut mehr herauf. Adrienne mochte diese Stunde nicht. Sie hätte gern gehört, wie irgendwo eine Tür ins Schloß fiel, jemand ein Wort sagte, und sie hoffte immer, ihr Vater werde noch einmal in den Salon hinuntergehen, um seine Zeitung, seine Pfeife zu holen, die er vielleicht vergessen hatte. Als wäre es nun etwas Wünschenswertes, lauerte sie sogar auf das schauerliche Geräusch, das ihre Schwester beim Husten machte, dieses Geräusch, vor dem sie tagsüber Abscheu empfand, doch sie wußte, daß Germaine, wenn sie nachts husten mußte, den Kopf unter ihren Decken verbarg.
Langsam entkleidete sie sich, achtete auch ihrerseits darauf, keine Geräusche zu machen, so tyrannisch ist die Macht der Stille, und ging zu Bett, ohne die Lampe zu löschen, die sie am Kopfende auf einen Tisch gestellt hatte, denn sie wußte, daß sie noch stundenlang keinen Schlaf finden würde, und wollte nicht im Dunkeln liegen, ohne einschlafen zu können. Die Luft war schwül, die Lampe strahlte Wärme aus; sie schraubte den Docht ein wenig herunter. Einen Augenblick blätterte sie in dem gelb eingebundenen Buch, das sie mit heraufgenommen hatte, doch angesichts dieser vielen hundert Seiten wurde sie von Langeweile ergriffen. Sie schob das Buch unter ihr Kissen, und wie jeden Abend legte sie einen angewinkelten Arm unter ihren Kopf und verharrte reglos.
Ihr kam vor, als höre sie in der Stille ein feines, unausgesetztes Geräusch, wie das Summen eines winzigen Insekts, aber dieser Ton existierte nur in ihren Ohren. Ihr Blick wanderte umher, bemühte sich, an den Dingen, die sie so oft sah, eine neue Seite, irgendein Detail zu entdecken, das ihr bisher vielleicht entgangen war. Sie haßte ihr Zimmer, vor allem nachts, während dieser leeren Stunden, die dem Schlaf vorangingen. Diese Blümchentapete, die ihr Vater ausgesucht hatte und auf die er so stolz war, dieser Schrank aus einem großen Kaufhaus, den sie zu ihrem sechzehnten Geburtstag bekommen hatte, dieses Eisenbett, wieviele Erinnerungen das waren, wieviele unerträgliche Jahre, wieviele bange Nächte, die dieser hier glichen!
Nie dachte sie ohne einen gewissen Überdruß an ihre Kindheit und frühe Jugend, so öde dünkten sie diese Abschnitte ihres Lebens. Wann hatte sie sich glücklich gefühlt? Wo waren jene Augenblicke des Glücks, aus denen die
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