Adrienne Mesurat
eine Regung, und man war überrascht durch die Leere dieses Blicks von so strahlendem Blau, daß er eine Art Licht über die roten Backen, über Schläfen und Stirn auszugießen schien. Ein gelblicher, an den Spitzen weißer Bart verbarg sein Kinn und fiel ihm fast bis auf die Krawatte. Wenn man ihn ansah, hatte er eine komische Art, die fleischige Nase zu rümpfen und gleichzeitig zu blinzeln, aber das war nur ein Tick, und diese Grimasse enthielt keinerlei absichtliche Ironie. Meist sprach er viel und lächelte bereitwillig.
Ganz zweifellos war er glücklich: Er führte ein sehr einfaches Leben, doch es bestand aus Gewohnheiten, die er eine nach der anderen angenommen hatte, so wie man auf einem langen Spaziergang Blumen oder seltene Steine aussucht, und er hing mit ganzem Herzen an ihnen. Die tägliche Runde durch die Stadt, das Eintreffen der Abendzeitungen, die Essenszeiten, das alles waren angenehme Augenblicke für diesen Mann, der den Eindruck erweckte, er werde diese Welt niemals verlassen müssen, soviel Freude und Energie legte er darein, seinen Platz in ihr zu behaupten.
Früher einmal Schönschreiblehrer an einer Pariser Schule, war er 1908, das heißt zu dem Zeitpunkt, an dem diese Erzählung beginnt, sechzig Jahre alt. Fünfzehn Jahre zuvor hatte er seine Frau verloren, eine Lécuyer ohne jede Ausstrahlung, von der er selten sprach und die er nicht vermißte. Später hatte er in der Lotterie eine recht ansehnliche Summe gewonnen, die es ihm erlaubte, sich ein paar Jahre eher, als er es sonst getan hätte, zur Ruhe zu setzen und in einem gewissen Wohlstand zu leben, um so mehr, als seine Ansprüche bescheiden waren. In der Villa des Charmes war alles aufs beste geordnet. Es gab drei Schlafzimmer, und der Zufall wollte es, daß sie zu dritt waren: er, Germaine und Adrienne, seine Töchter. Vortrefflich, wie er zu sagen pflegte, wonach er den Mund offenließ und sich mit der Rückseite des Daumens über den Bart strich.
An diesem Abend erschien Germaine nicht bei Tisch. Monsieur Mesurat runzelte die Stirn; ihm war alles zuwider, was vom Gewohnten abwich.
»Ißt sie nicht zu Abend?« fragte er, während er seinen Platz einnahm.
Adrienne stand noch und zog gerade eine wuchtige, kuppelförmige Hängelampe aus Milchglas so weit herab, bis sie den Blumenstrauß berührte, der den Tisch schmückte. Das schwere Ding bewegte sich mit Hilfe eines an Ketten hängenden Gewichts.
»Ißt Germaine nicht zu Abend?« fragte Monsieur Mesurat noch einmal.
Adrienne murmelte eine Antwort, die im Kettengerassel unterging. Endlich setzte sie sich und faltete ihre Serviette auseinander.
»Nun?« sagte der alte Mann ungeduldig. »Hast du nicht gehört?«
Die junge Frau blickte ihm in die Augen.
»Ich habe dir eine Antwort gegeben«, sagte sie schroff. »Germaine fühlt sich nicht wohl.«
»Sie ißt also nicht zu Abend?«
»Nein.«
Er schüttelte den Kopf, dann brockte er sich ein Stück Brot in die Suppe, ohne weitere Fragen zu stellen. Adrienne aß schweigend.
Als er seinen Teller ausgelöffelt hatte, wischte er sich über den Mund und strich seinen Bart glatt.
»Heute nachmittag habe ich meinen Rundgang durch die Stadt gemacht«, sagte er, während er die Hand nach der kleinen Weinkaraffe ausstreckte. »Es wird viel gebaut da, hinter dem Pfarrhaus.«
»Ah!«
»Ja, das Haus, dieses große, du weißt schon…«
Sie nickte.
»Sie sind schon beim dritten Stockwerk. Und vor Juli wird sicher noch Richtfest gefeiert.«
Er goß sein Glas voll, dann begann er, mit allen fünf Fingern, die er wie ein Klavierspieler spreizte, auf dem Tischtuch zu trommeln.
»Weißt du, wann die Mieter von gegenüber ankommen?« fragte Adrienne nach einer Weile.
»Hm, nein. Warum willst du das wissen?«
Er hörte mit dem Trommeln auf und sah sie an.
»Nur so.«
Monsieur Mesurat neigte den Kopf und kniff die Augen ein wenig zu.
»Die vom letzten Jahr…«
»Ach!« entfuhr es Adrienne ungewollt.
»Ich glaube, die sind im Juni gekommen. Willst du Madame Legras besuchen?«
»Ich? Nein, auf keinen Fall. Ohne sie sind wir ungestörter«, antwortete sie schnell.
Sie schob ihren Teller von sich und verschränkte die Arme auf dem Tisch.
»Bist du fertig?« fragte ihr Vater.
»Ja.«
Er läutete und begann, mit zufriedenem Gesicht zu trommeln. Während der übrigen Mahlzeit erzählte er seiner Tochter von den Veränderungen, die er in La Tour-1'Evêque beobachtet hatte, seit er hier wohnte, doch sie hörte nicht zu. Hin und wieder
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