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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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in ihr Gesicht zurück, und sie griff nach seiner Hand.
    »Es kommt alles in Ordnung, du wirst sehen«, sagte sie.
    »Sagte die Ärztin zu dem Patienten, für den sie keine Chance mehr sah.«

    »Nein, Bastian. Nein, ich …«
    »Schon gut. Es war nur ein Scherz, und kein besonders guter.« Sebastian schaute erneut aus dem Fenster und stellte sich die Dunkelheit wie einen Mantel vor, der sich über die Welt gelegt hatte. Nicht der Tag war es, der die Welt schön machte, dachte er, sondern die Nacht, denn sie verbarg alles Hässliche. »Wenn ich zu jemandem wie Krystek werde … Bedeutet es, dass ich mich wie er in einen Mörder verwandle?«
    Sein Blick kehrte zu Anna zurück, die noch immer seine Hand hielt, als könnte ihm das helfen. »Die Begegnung mit Simon Krystek im Restaurant des Hotels war kein Zufall. Er wollte mir begegnen.«
    »Warum?«, fragte Anna.
    »Um das Fremde in mir stärker werden zu lassen?«, spekulierte Sebastian. »Um mir zu zeigen, wer ich wirklich bin?«
    »Du bist Sebastian!«
    »Noch«, sagte er. »Noch habe ich niemanden getötet.« Er blickte auf seine Hände hinab und beobachtete, wie sie zu Fäusten wurden.
    »Du bist nicht fähig, jemanden zu töten. Meine Güte, Bastian …«
    »Ich nicht, nein. Aber dieses Ding in mir … dieser Nephilim sieht die Sache vermutlich anders.« Sebastian dachte erneut an das Messer in seiner Hand, dicht an Annas Hals. »In der Bibel werden die Biester erwähnt, hast du gesagt?«
    »Ja. In der altisraelischen Mythologie sind damit riesenhafte Mischwesen gemeint, gezeugt von göttlichen Geschöpfen und Menschenfrauen. Aber Anatoli und die vorherigen Verwahrer der Schriftrolle und des Medaillons benutzten diesen Namen, um die Sechs zu benennen. Sechs Nephilim, Wesen, ausgestattet
mit übermenschlichen Fähigkeiten. Sechs Überlebende nach dem Sieg, den damals Gilgamesch und seine Begleiter errangen.«
    »Weshalb Raffaele?«, fragte Sebastian. »Was hat er mit dieser ganzen Sache zu tun?«
    »Don Vincenzo war von dem Guten in ihm überzeugt«, sagte Anna. »Es will mir nicht in den Kopf, dass er sich so sehr geirrt hat.«
    »Raffaele hat all die Menschen geheilt, die zu ihm kamen.« Sebastian überlegte laut. »Er nahm ihnen Krankheit und Gebrechen, aber gleichzeitig machte er sie zu … Brutkästen. Er trägt letztendlich die Verantwortung dafür, dass viele Menschen gestorben und andere zu Mördern geworden sind.«
    »Brutkästen«, wiederholte Anna leise.
    »Ich habe einmal gelesen, dass es Insekten gibt, die ihre Eier in den Körpern von Säugetieren ablegen«, sagte Sebastian. »Die Larven entwickeln sich darin, fressen sich durchs lebende Fleisch … Aber woher stammen in diesem Fall die Eier in den Köpfen der Menschen? Woher hat Raffaele sie?« Etwas anderes fiel ihm ein. »Was ist mit meinen Visionen vom Kinderkreuzzug und Nikolaus? Und warum stand an der Decke von Simon Krysteks Schlafzimmer › Nikolaus ‹ geschrieben? Welchen Zusammenhang gibt es hier?«
    »Vielleicht liegt die Antwort darauf in eben jenen Visionen«, erwiderte Anna.
    Die Tür öffnete sich, und ein Mann in mittleren Jahren betrat das Abteil. Er sagte etwas auf Polnisch, das sie nicht verstanden, deponierte seinen Koffer in der Gepäckablage und nahm auf der anderen Seite Platz.
    Sebastian wechselte einen Blick mit Anna, in deren Gesicht
sich Sorgenfalten gebildet hatten, sah dann aus dem Fenster und blickte in die Nacht. Budapest, dachte er und hoffte inständig, dass Béla ihm helfen konnte, bevor er zum Mörder wurde.

39
    Jugla, bei Riga
    D as Ärgerliche am Leben war, dass es mit dem Tod enden musste.
    Dieser Gedanke war Anatoli oft durch den Kopf gegangen, vor allem in den letzten Jahren, und er dachte auch jetzt daran, als er sich vorbereitete. Er hatte einen großen Teil seines einundachtzig Jahre langen Lebens als Priester verbracht und war über Jahrzehnte hinweg sicher gewesen, was ihn hinter der letzten Tür erwartete. Doch mit zunehmendem Alter und nach den Erlebnissen in Asien und Afrika waren die Zweifel zurückgekehrt, und dadurch bekam die Vorstellung, bald Bescheid zu wissen, einen gewissen morbiden Reiz.
    Anatoli war sicher, dass er den bevorstehenden Kampf verlieren und sterben würde. Die Frage lautete: Wie lange konnte er seinen Gegner aufhalten?
    Obwohl er spürte, dass die Zeit drängte, verbrachte er fast zwei Stunden in seiner Bibliothek und blätterte in Büchern, die er schon seit vielen Jahren nicht mehr aufgeschlagen hatte. Anschließend trat er

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