Äon - Roman
Kater sah zu ihm auf und miaute.
Anatoli nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ja, du hast recht, Tolstoi. Wir Menschen neigen dazu, uns Dinge vorzumachen. Ihr Katzen habt es da leichter, nehme ich an.« Er lauschte dem Klang der eigenen Worte; sie halfen ihm dabei, sich abzulenken.
Nicht daran denken. Das war wichtig. Nicht an die beiden Gegenstände denken, die er ganz zu Anfang seiner Vorbereitungen an sich genommen hatte, und auch nicht an die anderen Dinge.
Er lehnte sich zurück, paffte und beobachtete, wie die Sonne über den Himmel kroch, dem Horizont entgegen. Es wurde kälter, und Anatoli überlegte, ob er ins Haus gehen sollte, als er den Fremden sah.
Er stand an der Zufahrt, am Rand des Schotterwegs, allein. Von einem Wagen war weit und breit nichts zu sehen, aber Anatoli fragte sich nicht, wie der Mann hierhergekommen war. Das Wie spielte keine Rolle. Er war da, und nur darauf kam es an.
Tolstoi fauchte leise, und das Fell auf seinem Rücken bildete einen Kamm.
»Lauf«, sagte Anatoli und stieß ihn sanft mit dem Fuß an. »Das ist nichts für dich.«
Der Kater sah ein letztes Mal zu ihm auf, huschte fort und verschwand bei der Scheune im Gebüsch.
Anatoli schaute wieder zur Zufahrt, doch der Fremde stand nicht mehr dort, sondern auf dem Hof. Er hatte die von den Steinen und Knochenfragmenten gebildeten äußeren Linien so selbstverständlich überschritten, als existierten sie überhaupt nicht. Leichter Wind wehte, schien den Mann aber nicht zu betreffen: Sein Mantel blieb unbewegt, so wie er selbst.
Anatoli stand auf, klopfte am Rand der Veranda die Pfeife aus und legte sie beiseite. Dann schob er die Hände in die Hosentaschen und holte die letzten Objekte hervor, die ihm geblieben waren: eine dünne goldene Kette, mehr als hundert Jahre alt, mit einem eisernen Kruzifix; ein altes, verblichenes Schwarz-Weiß-Foto, das den Franzosen Lafayette Larousse zeigte, der die Wahrheit an ihn weitergegeben hatte, zusammen mit dem Auftrag, sie gut zu hüten und eines Tages weiterzugeben; eine persische Münze aus dem vierten Jahrhundert, in ihrer Mitte ein Loch; und eine kleine Jadefigur aus der Bibliothek. Sie stellte Alom dar, den Maya-Gott des Himmels, einen der sieben Götter, die geholfen hatten, die Welt zu erschaffen. Oder vielleicht war es Ajbit, einer der dreizehn Götter,
die die Menschen erschaffen hatten. Anatoli blinzelte mehrmals und blickte auf die kleine Figur hinab, doch ihre Konturen verschwammen immer wieder.
»Die Augen sehen anders«, sagte er. »Und die Ohren hören Dinge, die sie nie zuvor vernommen haben.« Diese Worte hatte der alte Lafayette damals an ihn gerichtet, ohne selbst zu wissen, was sie wirklich bedeuteten, denn all die Eingeweihten vor ihnen waren nie einem Nephilim begegnet. Die Wahrheit, dachte er. Sie hatte ihn damals veranlasst, mit seinen Reisen kreuz und quer durch die Welt zu beginnen, auf der Suche nach einer neuen, persönlichen Wahrheit, die dem Glauben Kraft geben konnte.
Anatoli nahm die Halskette ab und legte sie so auf den Boden, dass das alte eiserne Kruzifix an ihr direkt neben der Jadefigur ruhte. Als er es betrachtete, verformte es sich, und aus dem Kreuz wurde ein Halbmond mit Stern.
»Glaubst du, mich damit aufhalten zu können?«
Die Stimme kam mit dem Wind, und auch mit dem Geruch des feuchten Bodens, mit dem Rascheln der Blätter und dem gelegentlichen Klappern der Fensterläden, und mit ihr kamen Eindrücke von einer Weite, die nicht nur den Raum betraf, sondern auch die Zeit. Die Welt schien zu sprechen, und auch an diese überlieferte Warnung erinnerte sich Anatoli: Glaubt nicht, dass die Mutter Erde zu euch spricht; glaubt nicht, der Seele der Welt zu begegnen.
»Mit den Gegenständen allein nicht«, sagte er so ruhig wie möglich und richtete sich langsam auf. »Aber vielleicht mit den Gedanken, die mit ihnen verbunden sind.« Tote Dinge bedeuten nichts, raunte es aus der Vergangenheit. Es sind die Verbindungen mit dem Leben, die ihnen Kraft geben. Auf den Glauben
kommt es an, Anatoli. Vergiss das nie. Der Glaube kann wirklich Berge versetzen.
Der Fremde stand jetzt auf der Veranda, nur noch wenige Meter entfernt, und der stärker werdende Wind bewegte seinen Mantel noch immer nicht. Regentropfen glänzten im kurzen schwarzen Haar, und die tief in den Höhlen liegenden Augen blickten über eine Jahrtausende breite Kluft der Zeit.
»Wie viele von euch gibt es noch?«, fragte der Mann. Er stand einfach nur da, kam nicht näher.
Eine Bö
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