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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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riss Anatoli den Hut vom Kopf und zerrte an seiner Jacke. Die Fensterläden klapperten lauter, wie zornig.
    »Ich bin allein«, sagte Anatoli. Der Wind hatte die Jadefigur umgestoßen, und sie rollte über die Veranda.
    »Wie soll sie dich schützen, wenn sie nicht einmal dem Wind standhalten kann?«, fragte der Fremde. »Sieh nur, wie schwach sie ist. Schwach und zerbrechlich.«
    Er bewegte die Hand, und die Figur zerbrach.
    Nicht daran denken.
    »Du bist Simon Krystek, nicht wahr?«, fragte Anatoli.
    »Krystek existiert nicht mehr. Ich bin …«
    Der alte Russe hörte ein Geräusch, das wie ein Fauchen im Wind klang und wie das Bersten eines fernen Bergs.
    »Warum hast du › Nikolaus ‹ an die Decke des Schlafzimmers geschrieben?«, fragte Anatoli, während er sich konzentrierte.
    »Woher weißt du das?«, fragte der Fremde. » Er hat es nicht gesehen. Und woran willst du nicht denken?«
    Anatoli beobachtete den von Wind und Regen unberührten Mann. Er ließ in seinen bewussten Gedanken ein Bild von Sebastian Vogler und seiner Frau Anna erscheinen und es sofort wieder verschwinden.

    Der Mann - das Geschöpf - näherte sich. Aber er ging nicht, er setzte nicht einen Fuß vor den anderen, sondern kam einfach, von einer Sekunde zur anderen, einen knappen Meter näher.
    Der Wind trieb Anatoli Regen ins Gesicht.
    »Oh, ich weiß, dass sie hier waren«, sagte der Nephilim. »Er hat mir den Weg gezeigt.«
    »Er hat ein Zeichen hinterlassen«, erwiderte Anatoli. »In der Nacht, in der sein Geist wanderte.«
    »Wo ist er jetzt?«
    Anatoli achtete nicht auf die Frage. »Was geschieht mit ihm?« Das interessierte ihn wirklich. Die anderen Dinge dienten nur dazu, den Fremden und vor allem sich selbst abzulenken. Die rechte Hand tastete langsam und wie beiläufig unter die Jacke, nach einem der beiden Objekte, dem die anderen Gedanken galten.
    »Weißt du das noch nicht? Und du willst ein Wissender sein? Er wird zu einem von uns.«
    Nicht wenn ich es verhindern kann. Dieser Gedanke stahl sich an die Oberfläche von Anatolis Ich, dorthin, wo der Nephilim ihn sehen konnte. Die Haltung des Fremden blieb unverändert, und auch in seinem maskenhaften Gesicht veränderte sich nichts. Doch in den Augen erschien ein seltsames Licht.
    »Und wie willst du es verhindern, Wissender , der du nichts weißt? Mit albernen Figuren und einer Halskette, an der ausgerechnet ein Kreuz hängt, obwohl gerade du es besser wissen solltest?« Der Fremde deutete auf den Boden der Veranda. »Oder mit der Münze dort?«
    Die anderen Gedanken, verborgen hinter den ersten, gelangten zu dem Schluss, dass der Zeitpunkt gekommen war.
Anatoli bückte sich, und mit der linken Hand griff er nach Halbmond und Stern. Das Metall verformte sich erneut, als er es berührte, wurde wieder zu einem Kreuz. Jetzt würde sich zeigen, wie stark sein Glaube sein konnte.
    Die linke Hand nahm auch die Münze, und als er sich wieder aufrichtete, holte die rechte Hand den alten Revolver unter der Jacke hervor, der Hahn bereits gespannt. Er unterdrückte jeden Gedanken, als er die Waffe auf die Gestalt im dunklen Mantel richtete und abdrückte. Der Revolver entlud sich mit einem lauten Knall, und die Kugel traf den Fremden am Hals. Blut spritzte, und die maskenartige Starre des Gesichts wich Überraschung, als der Nephilim von der Wucht des Geschosses nach hinten gestoßen wurde und fiel.
    Anatoli trat vor, spannte mit dem Daumen den Hahn und schoss erneut, traf den Nephilim diesmal in der Brust. Vier weitere Male drückte er ab und zielte dabei auf den Kopf - die ersten beiden Kugeln durchschlugen die Augen, und die übrigen zwei hinterließen Löcher in der Stirn. Bei jedem Schuss stellte sich Anatoli vor, dass die Kugeln mehr waren als nur Blei. Fester Glaube machte sie zu von Gott gesandten Geschossen, zu Boten Seines Willens, dem sich niemand, nicht einmal ein Nephilim, widersetzen konnte. Auf den Glauben kommt es an, Anatoli, flüsterte Lafayettes Stimme aus der Vergangenheit. Er stellte sich die Kugeln als etwas vor, das alle Barrieren durchschlug und jeden Widerstand brach - der Revolver in seiner Hand wurde zu einer ebenso mächtigen Waffe wie einst Gilgameschs Schwert.
    Das Fauchen des Winds schwoll zu einem Heulen an, und er schleuderte Anatoli den Regen ins Gesicht. Er stemmte sich den Böen entgegen, blickte auf die Gestalt hinab, die jetzt neben
der Veranda im Schlamm lag - die Augen zerfetzt, Hals und Stirn blutig -, und wusste, dass es nicht genügte. Es war ihm

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