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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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von Anfang an klar gewesen, auch in den Tiefen seines Selbst, dort, wo er den ganzen Nachmittag über die Kraft des Glaubens gesammelt hatte. Nein, der Revolver allein genügte nicht, aber vielleicht …
    Wilde Hoffnung wuchs plötzlich in dem alten Russen. Er hatte sich nicht nur auf den Kampf, sondern auch auf das eigene Ende vorbereitet, denn er wusste so wenig, und was konnte er damit gegen einen Nephilim ausrichten? Doch jetzt dachte er an die Möglichkeit, dass auch dieses Wesen weniger war als einst, nicht so stark wie die Gegner, mit denen es damals der König von Uruk und seine Krieger zu tun bekommen hatten. Vielleicht konnte er nicht nur Zeit gewinnen für Sebastian und Anna, sondern dieses Geschöpf tatsächlich besiegen.
    Rasch holte er den zweiten Gegenstand hervor, einen dünnen Dolch, alt wie der Revolver, den er fallen gelassen hatte, die Schneide schartig und stumpf. Er hielt ihn in der rechten Hand und steckte mit der linken die Münze über die Spitze des Dolchs, die nun etwa einen Zentimeter weit durch die Öffnung ragte.
    Der Wind ließ plötzlich nach, und aus dem lauten Prasseln des Regens wurde ein fast sanftes Tröpfeln. Anatoli hob den Blick, sah zu den schnell dahinziehenden Wolken empor und beobachtete, wie sich eine Lücke bildete, durch die das matte Glühen des Mondes kam und sich mit dem letzten Licht des Tages vereinte. Er wollte ein Zeichen darin sehen, glaubte es mit der ganzen Kraft seiner Seele, und als er wieder auf den Dolch sah, veränderte sich die Münze so, wie er es sich am Nachmittag mehrmals vorgestellt hatte. Ihr Metall stammt aus
dem Grab , flüsterte Lafayette aus der Vergangenheit. So hat man es mir gesagt, und so sage ich es dir. Das Metall dieser Münze stammt aus dem Kerker der Sechs …
    Die Münze zerfloss, und ihr Metall glänzte wie Quecksilber, als es über den Dolch rann und sich auf ihm verteilte. Nach wenigen Momenten wirkte die alte Klinge wie neu und fing das Licht des Mondes ein.
    Mit dem Dolch in der rechten Hand und dem Kreuz in der linken trat Anatoli von der Veranda herunter in den Schlamm und zu dem Fremden, auf den er sechsmal geschossen hatte und der noch immer reglos dalag. Er öffnete dessen Mantel, sah die von der zweiten Kugel verursachte Brustwunde und zielte mit dem Dolch etwas höher, aufs Herz. Als er zustieß, machte er sich selbst zu einem Werkzeug der absoluten Gewissheit, verbannte jeden Zweifel und wusste , dass der Dolch mit dem Metall aus dem Grab töten würde.
    Doch die Klinge traf kein Fleisch, sondern bohrte sich in regenweichen Boden.
    Der Nephilim mit den sechs Kugeln in seinem Leib war verschwunden. Und der Schlamm verschwand ebenfalls.
    Der Wind erhob wieder seine Stimme, aber er trieb keinen Regen vor sich her, sondern kalten Staub. Anatoli hockte noch immer da, die Hand an dem Dolch im trockenen, sandigen Boden, und als er aufsah, existierte der alte Bauernhof nicht mehr. Der Himmel war rotgelb, wie die glühenden Kohlen eines Holzfeuers, und um ihn herum erstreckte sich eine öde, wüstenartige Landschaft, grau und tot. Hier und dort lagen Gerippe im Staub, die Reste von Menschen und Tieren, die die Menschen getragen hatten: einst stolze Krieger, ausgestattet mit Schwertern und anderen Waffen, um gegen Wesen zu
kämpfen, die imstande waren, ihre Gedanken zu manipulieren und gegen sie zu verwenden. Wie hatten sie hoffen können, sich gegen einen solchen Feind durchzusetzen?
    Anatoli richtete sich auf und blickte an den Felsen vorbei in die Schlucht, die ihm wie eine Wunde im Leib der Welt erschien. Er glaubte zu verstehen - er befand sich im …
    »Niemandsland«, erklang eine Stimme hinter ihm.
    Er wusste, von wem das Wort stammte, und er wusste auch, dass es keine Hoffnung mehr gab, dass es von Anfang an keine für ihn gegeben hatte. Der Nephilim war schwach, ja, aber doch viel zu stark für ihn. Der Verlust an Wissen über die Jahrhunderte hinweg verurteilte ihn zum Tod.
    Der Nephilim, der den Körper von Simon Krystek benutzte, trat in Anatolis Blickfeld. Die Löcher in der Stirn hatten sich bereits geschlossen, und in den blutigen Höhlen darunter bildeten sich neue Augen. Kugeln konnten ihm nichts anhaben, nicht einmal dann, wenn sie in der Vorstellung eines ehemaligen Priesters zu göttlichen Geschossen wurden, und der Dolch hatte ihn überhaupt nicht berührt.
    »Wie jämmerlich«, kam es aus dem Mund des Mannes, der längst kein Mensch mehr war. »Und euch haben wir gefürchtet!«
    Anatoli fröstelte, obwohl er

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