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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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wusste, dass die Kälte und diese Welt gar nicht wirklich existierten. Er sah und spürte …
    »Dies sind Erinnerungen, nicht wahr? Deine Erinnerungen. Das blieb übrig, nachdem sich damals die letzte Pforte schloss. Du hast es erlebt. Du gehörst zu den wenigen, die damals überlebten.«
    Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte er einen anderen Wind, den mentalen Sturm heißen Zorns, und er glaubte zu
sehen, wie Flammen aus den Augen des Fremden loderten. Die Szene veränderte sich. Die roten Töne verschwanden vom Himmel, wichen einem schwefligen Gelb, das von Horizont zu Horizont reichte und in dem es gelegentlich flackerte, wie von hinter den Wolken verborgenen Blitzen. Das Land blieb staubig und trocken, aber es wurde wärmer, und wo geborstene Felsen lagen, wie vom Hammer eines Titanen zertrümmert, ragten graubraune Säulen Dutzende von Metern weit auf und trugen Plattformen mit Dingen, die Anatoli erst für die Statuen von Fabelwesen hielt. Doch dann sah er, wie sie knorrige Gliedmaßen bewegten, reptilienartige Köpfe hoben und fauchten und brüllten, bis die ganze Welt voll war von ihrem Geschrei und sich Anatoli die Ohren zuhielt, weil es ihm die Trommelfelle zu zerreißen drohte. Die Stimme des Nephilim hörte er trotzdem, denn sie erreichte seine Gedanken.
    »Das Niemandsland«, wiederholte er. »Die Zone des Übergangs. So sah es hier aus.«
    Die enge Schlucht wurde breit und tief, und ein Felsentor bildete den Eingang. Die Gerippe mit ihren Helmen, Rüstungen und matt und stumpf gewordenen Schwertern verschwanden, und dicht hinter der Stelle, wo sie gelegen hatten, wimmelte es plötzlich von bizarrem Leben. Wie aufgedunsen wirkende Geschöpfe stakten auf stelzenartigen Beinen dahin und trompeteten Elefanten gleich. Mit transparenten Schwingen fliegende Geschöpfe, die Anatoli zunächst für übergroße Libellen hielt, surrten durchs Tor, und als sie vom warmen Wind erfasst aufstiegen, sah der Alte fratzenhafte Gesichter und kleine Arme, die in Klauen endeten. Und hinter diesen Kreaturen …
    Die brodelnde, wogende, lebendige Masse Tausender von
Wesen füllte das Tal, eine gewaltige Menge aus Schuppen, Schnäbeln, Klauen, Krallen und Gliedmaßen aller Art. Weiter hinten im Tal verlor sich die enorme Menge der so unterschiedlichen Geschöpf in Dunst und Düsternis.
    Anatoli vernahm ein dumpfes Grollen, das aus zahllosen Kehlen stammte, und er wusste, was er sah und hörte: das Gegenteil des Garten Edens, die andere, dunkle Seite der Welt, in der Bibel »Hölle« genannt, obwohl sie anders beschaffen war als dort beschrieben.
    »Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tiers«, murmelte Anatoli. »Denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.« Er sah den Nephilim an, und eine seltsame Ruhe breitete sich in ihm aus, geschaffen von der Gewissheit, das Ende seines Weges erreicht zu haben. »Die Zahl ist falsch, nicht wahr?« Er deutete auf die Heerscharen jenseits des Tors. »Die richtige Zahl lautet sechs hoch sechs hoch sechs. Und ihr seid die Ersten. Die ersten Sechs. Das ist die wahre Botschaft der Bibel. Eine Warnung. Die Bibel warnt vor euch, aber wir haben es nicht verstanden. Weil wir es nicht verstehen sollten.« Er öffnete die linke Hand, betrachtete, traurig und kummervoll, das Kreuz darin und dachte an die andere Wahrheit, die er Anna nicht anvertraut hatte. In ihr gab es einen festen Kern, der stabil bleiben musste, wenn sie Sebastian helfen wollte; sie brauchte Gewissheiten, die ihr Halt gaben, auch wenn sie falsch waren.
    »Ihr armseligen Menschen«, sagte der Nephilim und trat näher. »Eure Welt basiert auf Lügen. Wir waren vor euch da, und wir werden nach euch da sein.«
    Trockenheit verwandelte sich in Nässe, ausgedörrter Boden in Schlamm. Anatoli stand neben der Veranda, dort, wo eben
noch der Fremde gelegen hatte, von sechs Revolverkugeln getroffen.
    »Außer dir gibt es nur noch einen«, sagte der Nephilim hinter ihm. »Ich sehe es in deinen Gedanken. Wir hätten uns die Sorgen sparen können.«
    Anatoli drehte sich um. Die dunkle Gestalt stand wie er im Regen, aber der Wind ließ sie nach wie vor unberührt. Dunkle Augen sahen ihn an, hinter ihnen ein fremdes Selbst, älter als alle Lebewesen auf der Erde, älter noch als die ältesten Bäume.
    Der Nephilim hob die Hand, und plötzlich fühlte Anatoli einen kalten Griff im Innern seines Kopfes. Geistige Finger krümmten sich um sein Gehirn und drückten mit der Absicht zu, alle Geheimnisse

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