Äon - Roman
genug ausgesetzt gewesen.
Singerer verdrängte diesen Gedanken und fragte sich stattdessen, warum er von den überlebenden Einsatzbeamten, als sie den Keller verlassen hatten, zurückgelassen worden war. Hatten sie ihn, begraben unter den umgestürzten Schränken, vielleicht für tot gehalten?
Im Erdgeschoss der Klinik begegnete er noch einer weiteren lebenden Person. Eine hagere, mindestens siebzig Jahre alte Frau, gekleidet in einen fleckigen Patientenkittel, stand mitten
im leeren Flur und starrte ins Leere. Als Singerer sich ihr vorsichtig näherte, zitterten ihre Lider.
»Sie sind tot«, sagte sie leise. »Sie sind alle tot.«
Singerer näherte sich der schwach und fragil wirkenden Frau. »Wo sind die Einsatzbeamten?«
Die Alte sah ihn an, doch ihr Blick reichte durch ihn hindurch. »Tot«, wiederholte sie. »Tot …«
Singerer widerstand der Versuchung, sie an den Schultern zu packen und zu schütteln. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und ging mit langen Schritten zur Glastür, hinter der sich der Eingangsbereich erstreckte. Er hatte sie fast erreicht, als hinter ihm ein Schuss krachte, und fast im gleichen Augenblick spürte er einen stechenden Schmerz im linken Arm. Die Taschenlampe rutschte aus der plötzlich kraftlosen Hand und fiel zu Boden.
Er starrte auf den Arm und sah, wie Blut aus einer Wunde quoll.
Als er sich umdrehte, hielt die mitten im Flur stehende Alte eine der Pistolen in der Hand, mit denen die Beamten der Einsatzgruppen bewaffnet gewesen waren.
»Sie sind tot«, sagte sie erneut. Plötzlich fraßen sich die Falten tiefer in ihr Gesicht, und sie fügte hinzu: »Du bist tot.«
Sie hob die Waffe, und Singerer wusste, dass ihm keine Zeit blieb, zu fliehen oder irgendwo in Deckung zu gehen. Seine rechte Hand hob sich von allein, und der Zeigefinger krümmte sich um den Abzug seiner eigenen Pistole. Er schoss, bevor die Alte Gelegenheit bekam, noch einmal von ihrer Waffe Gebrauch zu machen. Die Kugel traf sie in der Brust, und sie klappte einfach zusammen, fiel und rührte sich nicht mehr.
Wenige Sekunden später war Singerer durch die Glastür, eilte zum Ausgang und nach draußen.
Eine Lautsprecherstimme dröhnte. »Bleiben Sie stehen.«
Er musste länger bewusstlos gewesen sein, als er vermutet hatte, denn der Abend dämmerte bereits. Stacheldrahtrollen waren ausgelegt worden und sollten offenbar verhindern, dass jemand das Klinikgelände verließ. Hinter ihnen sah er die Silhouetten von Uniformierten. Viele von ihnen hielten Waffen in den Händen, und einige richteten sie auf ihn.
»Ich bin’s!«, rief er. »Roland Singerer. Ich …«
»Kehren Sie ins Gebäude zurück«, sagte die Lautsprecherstimme. »In Kürze trifft eine Gruppe ein, die Sie und die anderen Überlebenden mit allen notwendigen Dingen versorgt.«
»Verdammt, ich bin’s, Singerer!« Er hob die Hände und winkte, dachte zu spät daran, dass er noch immer die Pistole in der rechten Hand hielt.
Bei den Absperrungen ratterte eine automatische Waffe.
Die Schüsse trafen ihn nicht und waren vermutlich nur als Warnung gedacht, aber Singerer reagierte instinktiv und rannte in die Klinik zurück, so schnell ihn die Beine trugen.
Drinnen hielt er sich den linken Arm, der noch immer stark blutete und behandelt werden musste. Durch die Glastür sah er in den Flur, wo die tote Alte lag, von ihm erschossen, und dann blickte er nach draußen, wo Verbündete zu Gegnern geworden waren.
Roland Singerer stellte sich der bitteren, erschreckenden Erkenntnis, dass er plötzlich auf der anderen Seite stand, der falschen.
41
Jugla, bei Riga
E in Wagen des Erzbischofs von Riga, Jānis Pujats, trug Ignazio Giorgesi durch die kalte lettische Nacht. Die zivile Kleidung - ein Anzug und darüber ein dicker Mantel - wiesen auf den inoffiziellen Status seiner Mission hin, was weniger ihn als vielmehr den Vatikan schützen sollte.
»Hier«, sagte der Mann am Steuer, ein Lette, der recht gut Italienisch sprach. »Hier muss es sein.« Er bog von der Straße auf einen Schotterweg, und weiter vorn riss das Scheinwerferlicht einen alten Bauernhof aus der Dunkelheit. Es brannte kein Licht im Haupthaus, um diese Zeit eigentlich kein Wunder, aber als Ignazio aus dem Fenster sah, gewann er den Eindruck, dass hier niemand mehr lebte. Er fragte nicht, ob es die richtige Adresse war - der Fahrer des Bischofs kannte sich hier aus.
Der Mann am Steuer manövrierte die komfortable Limousine an den größten Schlaglöchern vorbei und hielt
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