Äon - Roman
auf dem kleinen Hof, nicht weit vom Hauptgebäude entfernt. Er stellte den Motor ab, ließ das Licht aber eingeschaltet.
Ignazio Giorgesi stieg aus und klappte den Kragen des Mantels hoch, als ihm kalter Wind übers Gesicht fuhr. Es regnete nicht mehr, aber die Temperatur lag nur wenige Grad über dem Gefrierpunkt.
Er ging zum Haupthaus und trat die Stufen zur Veranda hoch, zögerte aber vor der Tür. Der linke Teil der Veranda blieb im Dunkeln, vom Scheinwerferlicht unberührt. Trotzdem wandte sich Ignazio dorthin, angetrieben von seinem Instinkt, und am Ende der Veranda fand er den Toten.
»Ich bin zu spät gekommen«, murmelte er bestürzt und sah auf Anatoli Pawel Pawlowitsch hinab, der sich offenbar selbst einen Dolch ins Herz gestoßen hatte. Langsam ging er neben dem Toten in die Hocke, griff nach der Hand, die den Dolch noch immer umklammert hielt, löste sie davon und sprach ein leises Gebet.
Der Fahrer hatte offenbar gemerkt, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, und näherte sich mit einer Taschenlampe. Erschrockene lettische Worte kamen von seinen Lippen, als er den Toten sah, und dann fügte er auf Italienisch hinzu: »Monsignore, um Himmels willen! Was hat das zu bedeuten?«
Ignazio wies den Fahrer nicht darauf hin, dass er kein Monsignore war. Stattdessen dachte er: Es ist nur noch einer übrig, nach all den Jahrhunderten.
Ein Brummen lag in der Luft, und er schaute hoch, nachdem er den Toten gesegnet hatte. Das Scheinwerferlicht weiterer Fahrzeuge näherte sich schnell: zwei Streifenwagen der lettischen Polizei und ein kompakter SUV, der den Schlaglöchern nicht auswich, sondern sich hindurchkämpfte.
Polizisten stiegen aus und zogen ihre Waffen, als sie den Toten sahen. Ignazios Fahrer stieß schnell einige lettische Worte hervor, mit denen er vermutlich seine Unschuld beteuerte, und hob sicherheitshalber die Arme. Giorgesi nahm sich ein Beispiel an ihm.
»Es handelt sich um Selbstmord«, sagte er möglichst ruhig
auf Englisch, obwohl er ganz genau wusste, dass es kein Selbstmord war. Der alte Anatoli Pawel Pawlowitsch hatte sich das Messer selbst ins Herz gestoßen, aber bestimmt nicht freiwillig. Jemand - etwas - hatte ihn dazu gebracht, aus dem Leben zu fliehen.
Einer der Uniformierten näherte sich, hielt die Pistole schussbereit und sprach einige scharfe Worte. Ignazio achtete darauf, dass seine Hände oben blieben. »Sprechen Sie Italienisch?«, fragte er. »Oder Englisch?«
Hinter den Streifenwagen stiegen zwei Personen aus dem SUV, und als sie ins Scheinwerferlicht der Fahrzeuge traten, sah Ignazio einen etwa sechzig Jahre alten, unscheinbar wirkenden Mann mit grauem, schütteren Haar, gekleidet in einen grauen Anzug. Eine Frau in mittleren Jahren begleitete ihn, schlank und ernst, das Haar kurz, mit einem großen Pflaster am Kinn.
Die Frau blieb bei den Polizisten stehen und sprach leise mit ihnen. Der Mann ging weiter, an Ignazios inzwischen schweigendem Fahrer vorbei. Neben dem Toten blieb er stehen, ohne auf den kalten Wind zu achten, der ihm das Haar zerzauste und an der Anzugjacke zerrte. Schließlich hob er den Kopf und sah Ignazio an. »Sie sind …?«, fragte er auf Englisch.
»Ignazio Giorgesi. Darf ich die Hände herunternehmen?«
»Bitte.«
»Ich habe nichts mit dieser Sache zu tun. Als wir hier eintrafen, war Anatoli Pawel Pawlowitsch bereits tot.«
Der Blick des Mannes kehrte kurz zu dem Toten zurück. »Daran zweifle ich nicht. Was führt Sie hierher?«
»Der Tod eines anderen Mannes«, antwortete Ignazio, was durchaus der Wahrheit entsprach. »Eines Priesters namens
Don Vincenzo aus Drisiano in Kalabrien. Er war ein guter Freund dieses Mannes.« Er sah kurz zu den Beamten, die ihre Waffen inzwischen eingesteckt hatten. »Und wer sind Sie?«
»Ferdinand Benjer«, erwiderte der Mann.
Ignazio vertraute seiner Intuition, als er sagte: »Aber Sie gehören nicht zur lettischen Polizei, oder?«
Benjer musterte ihn und nickte langsam. »Sehr aufmerksam von Ihnen. Ich bin sicher, uns steht ein interessantes Gespräch bevor. Sie sind doch bereit, uns nach Riga zu begleiten, oder?«
»Ich habe mit dieser Sache nichts zu tun«, betonte Ignazio noch einmal und dachte an den Letzten der Sapienti, einen Mann in Budapest. Wer auch immer Anatoli Pawlowitsch in den Tod getrieben hatte, vielleicht war er auf dem Weg zu ihm.
»Das sagten Sie bereits. Aber ich möchte trotzdem mit Ihnen reden. Zum Beispiel über einen gewissen Sebastian Vogler. Und einen Mann namens
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