Äon - Roman
Wind in einem leisen Rauschen miteinander zu vereinen.
»Deine Mühen waren nicht genug«, sagt der Gekreuzigte. »Knie nieder vor mir in Demut und büße.«
Am Grab von Hubertus kniet Nikolaus vor Jesus Christus nieder und senkt voller Demut den Kopf. Aber schuldig fühlt er sich nicht, denn er weiß, dass er alles getan hat, was in seiner Macht stand, und mehr kann niemand von ihm verlangen, nicht einmal der Sohn des Herrn.
Eine Hand legt sich ihm auf den Kopf, und von ihren Fingern geht eine Kälte aus, die sich langsam in seinem Körper ausbreitet.
Überrascht blickt er hoch und bemerkt aus dem Augenwinkel, dass die fünf anderen Gestalten zum nahen Dorf gehen, zum Haus, in dem Elisa schläft.
Und er stellt fest, dass er mit seinen Gedanken nicht mehr allein ist. Etwas anderes flüstert in ihm, mit wortloser Beharrlichkeit.
»Deine Frau hat in dieser Nacht einen Sohn empfangen«, sagt der Gekreuzigte. »Aber es wird nicht nur dein Sohn sein, sondern auch unserer. Denn eines Tages wird ein Sohn deines Sohnes deines Sohnes einen neuen Kreuzzug führen, in meinem Namen, Nikolaus. Das soll deine Buße sein. Gib uns deinen Sohn, auf dass einer seiner Nachkommen zu Ende führt, was du begonnen hast. Bist du dazu bereit?«
Die Hand auf dem Kopf drückt fast schmerzhaft fest zu. Ein Sohn, denkt Nikolaus. Ich bekomme einen Sohn, und er wird mir genommen, noch bevor er geboren ist.
»Bist du dazu bereit?«, fragt der Mann mit der Dornenkrone erneut.
»Ja, Herr«, sagt Nikolaus, denn es ist Jesus Christus, mit dem er spricht. »Mein Sohn und alle seine Nachkommen sollen dir so treue Diener sein, wie ich es bin.«
»So sei es«, erwidert der Gekreuzigte, und mit ihm sprechen Wind und Meer.
Der Druck auf Nikolaus’ Kopf verschwindet, aber er kniet noch eine Zeit lang mit gesenktem Haupt und hebt den Blick erst, als die Stille zu lange dauert.
Der Mann mit der Dornenkrone ist verschwunden, und als Nikolaus wenig später das Haus betritt, findet er Elisa allein vor. Sie liegt noch immer im Bett, den einen Arm ausgestreckt, wie auf der Suche nach ihm. Von den fünf Gestalten, die den Gekreuzigten begleitet haben, ist nichts zu sehen.
Sebastian zitterte so heftig, dass er die Tasse umstieß, und Kaffee spritzte über die weiße Tischdecke. Anna fuhr aus einem Reflex heraus zurück.
»Nikolaus …«, stieß er hervor. Bilder überlagerten sich: Wo die Donau floss und eine breite Brücke über den Fluss führte, standen die einfachen Häuser eines kleinen Dorfes am Hang eines Berges. Und dort, wo das Ausflugsboot auf Touristen wartete, lagen die weißen Steine von Hubertus’ Grab.
»Er entkam den Sklavenjägern, ließ sich in einem kalabrischen Dorf nieder und heiratete«, brachte Sebastian hervor. Das Zittern wollte nicht aufhören; die Erde schien unter ihm zu beben. »Die Sechs … sie kamen zu ihm und …«
Eine Kellnerin näherte sich und sagte etwas, das er nicht verstand. Anna entschuldigte sich auf Englisch für das angerichtete Durcheinander, bezahlte und half ihm auf. »Wir sollten besser gehen, Bastian. Komm.« Mit der einen Hand stützte sie ihn, und mit der anderen nahm sie die Reisetasche.
Die Blicke der Kellnerin und einiger Gäste folgten ihnen, als sie das Café verließen. Sebastian lehnte sich neben dem Eingang an die Wand - das Zittern war so heftig, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte.
»Nikolaus … Der Mann, der ihm in Köln erschien und den er für Jesus Christus hielt …« Die Worte strömten aus ihm heraus, und er unterbrach sich, um nach Luft zu schnappen. »Es war einer der Sechs, und in Kalabrien erschien er ihm erneut, nach der Heirat mit Elisa … zusammen mit den anderen fünf …«
»Beruhig dich, Bastian.« Anna stand vor ihm und hob die Hände zu seinen Wangen. »Beruhig dich.«
»Verstehst du denn nicht?« Sebastian stand schnaufend da, außer Atem wie nach einem langen Lauf, und sah zur Brücke über die Donau. Doch auf der anderen Seite gab es keine Uferpromenade, sondern die felsigen Hänge des Aspromonte vor fast achthundert Jahren. »Verstehst du denn nicht?«, fragte er leiser und deutlicher. »Nikolaus glaubte, es mit Jesus Christus zu tun zu haben, und er … er gab ihnen seinen Sohn. Er versprach Treue und Gehorsam all seiner Nachkommen; angeblich sollte irgendwann der Sohn eines Sohnes eines Sohnes zum Anführer eines neuen Kreuzzugs werden.«
Sebastian blickte noch immer über den Fluss und beobachtete, wie sich die Hänge des Gebirges
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