Äon - Roman
Schein fiel nicht auf das Kalabrien, das er kannte.
Sebastian träumte.
Oder vielleicht war es gar kein Traum.
Einige Dutzend Kinder entkommen den Sklavenhändlern, die in Brindisi auf den kümmerlichen Rest des Kreuzzugs gewartet haben. Unter ihnen sind Nikolaus, sein treuer Freund Hubertus und ein zehn Jahre altes Mädchen namens Elisa, das aus Ravenna stammt und sich dem Kreuzzug angeschlossen hat, obwohl ihn längst Elend begleitet und sich immer mehr Hoffnungslosigkeit ausbreitet. Es ist nicht die Aussicht, ins Heilige Land zu gelangen, nach Jerusalem, die Elisa dazu gebracht hat, sich dem Zug der Kinder anzuschließen. Der Grund heißt Nikolaus. Sie hat sein Lächeln gesehen, traurig und voller Schwermut. Sie hat seine Stimme gehört, als er von Köln und der Begegnung mit dem Gekreuzigten erzählte. Sie hat seine Augen gesehen, als sie in die Ferne blickten, übers Meer, das sich nicht wie versprochen vor ihm teilte. Etwas hat ihr gesagt, dass sie diesem Jungen folgen muss, was auch immer geschieht, und deshalb ist sie von zu Hause fortgelaufen.
Von Brindisi aus ziehen sie nach Tarent, und von dort weiter nach Westen und dann nach Süden, auf der Flucht vor Räuberbanden, Wegelagerern und Menschenhändlern. Gelegentlich finden sie Zuflucht in einer Kirche oder einem Kloster. Sie helfen Hirten, teilen die Mahlzeiten mit ihnen und erzählen staunenden Ohren von dem weiten Weg, den sie hinter sich haben.
Die Gruppe schrumpft immer mehr. Einige Kinder fallen Schwäche, Krankheiten oder Unfällen zum Opfer. Andere verschwinden einfach, zu zweit oder zu dritt, und niemand fragt, wohin sie gegangen sein könnten
und was aus ihnen werden mag. Schließlich bleiben nur noch Nikolaus und seine beiden Begleiter übrig.
Im Aspromonte schließlich, in einem kleinen, abgelegenen Dorf, machen sie Halt, denn Hubertus geht es schlecht. Der große, starke Junge ist mager und schwach geworden, und oft quält ihn ein Fieber, gegen das nichts zu helfen scheint, nicht einmal die Kräuter des Heilkundigen aus dem Dorf. Es schwächt ihn immer mehr, und Nikolaus fühlt sich erneut hilflos, als er beobachten muss, wie jeder Tag seinen Freund dem Tod näher bringt. Er weicht nicht von seinem Lager, gibt ihm zu essen und zu trinken. Elisa ist oft bei ihm und hört zu, wenn er mit sanfter Stimme Geschichten erzählt, die manchmal ein Lächeln auf Hubertus’ Lippen bringen.
Doch das Fieber wütet weiter in ihm, und als der erste Schnee fällt in diesem Winter des Jahres 1212, stirbt Hubertus an einem grauen, kalten Morgen. Das Dorf versammelt sich, aber Nikolaus besteht darauf, das Grab allein auszuheben. Er macht sich an die Arbeit, obwohl er selbst schwach ist, gräbt fast den ganzen Tag mit Hacke und Schaufel und lässt sich nur von Elisa dabei helfen, nachdem sie ihn immer wieder darum gebeten hat. Nachts halten sie beide die Totenwache in der kleinen Kirche, und obwohl Nikolaus müde ist, bleiben seine Augen offen und der Blick auf das Kreuz gerichtet. In seinen Gebeten bittet er Gott, Hubertus’ Seele aufzunehmen, aber er fragt auch nach dem Grund für die Lüge, die so viel Leid über so viele Menschen brachte. Eine Antwort bekommt er nicht, doch manchmal fühlt er Elisas Hand auf dem Arm oder ihre Fingerkuppen an der Wange, ganz leicht, als hätte sie Angst, ihn zu berühren.
Am nächsten Morgen tragen sie Hubertus zum Grab und legen ihn dort zu seiner letzten Ruhe. Die Dorfbewohner beten mit ihnen zusammen, und als sie damit beginnen, das Grab mit Erde zu füllen, sagt der Priester:
»Euer Freund wird für immer hierbleiben. Vielleicht ist das ein Zeichen. Vielleicht solltet auch ihr bleiben, hier bei uns.«
Nikolaus sieht Elisa an und erkennt die Antwort in ihren Augen.
»Ja«, sagt er und blickt zur Sonne hoch, die zwischen grauen Wolken zum Vorschein kommt. »Ja, wir bleiben hier.«
Wo er eben noch Berge wahrgenommen hatte, über denen aus grauen Wolken Schneeflocken fielen, sah er nun braunes Wasser unter einer modernen Brücke mit sechs Fahrbahnen dahinströmen. Sebastian wusste, dass es noch früh am Morgen war, aber es herrschte bereits reger Verkehr.
Sie saßen in einem Café, und er deutete zum Fluss. »Das ist die Donau, nicht wahr? Wir sind in Budapest.«
»Bastian? Wie geht es dir?«
Anna saß auf der anderen Seite des Tisches, die Reisetasche neben sich auf dem dritten Stuhl. Sie hatte beide Hände um eine dampfende Tasse Kaffee gelegt; Müdigkeit und Sorge schufen Schatten in ihrem Gesicht,
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