Äon - Roman
ließen sie einige Jahre älter erscheinen.
Sebastian senkte den Blick und sah eine weitere Tasse vor sich auf dem Tisch. Er erinnerte sich nicht daran, dass sie jemand gebracht hatte. Er erinnerte sich nicht einmal daran, aus dem Zug gestiegen zu sein, den Bahnhof verlassen und dieses Lokal betreten zu haben.
»Bastian?«
»Ich habe geträumt«, sagte er.
»Du warst halb weggetreten.«
»Von Nikolaus«, murmelte Sebastian. Er hörte Annas Stimme, aber sie hatte einen neuen Klang, und als er den Blick wieder hob, veränderte sich ihr Gesicht und wurde zu dem einer anderen Frau.
Jahre vergehen, und aus dem Jungen namens Nikolaus, der einst Köln verließ, um das Heilige Land zu befreien, wird ein Mann. Elisa reift neben ihm zur Frau heran, und bald verbindet sie mehr als nur die Erinnerung an den gescheiterten Kreuzzug. Im Sommer des Jahres 1222 heiraten sie in der kleinen Kirche, in der sie fast ein Jahrzehnt zuvor Totenwache hielten, und am Abend, nach der Feier im Dorf, besuchen sie ihren toten Freund. Weiße Steine liegen auf seinem Grab und frische Blumen, die Elisa noch am Morgen gebracht hat. Nebeneinander sitzen sie dort, Hand in Hand, und während die Sonne untergeht, erzählen sie Hubertus von der Zeremonie in der Kirche und vom Fest. Sie verlassen das Grab erst, als es dunkel geworden ist und die Sterne am Himmel leuchten, und gehen zu dem kleinen Haus am Rand des Ortes, das sie während der letzten Monate zusammen mit den anderen Dorfbewohnern gebaut haben. Es soll das Heim ihrer Familie sein.
Sie lieben sich, zum ersten Mal als Mann und Frau, und schließlich schlafen sie, die Arme umeinandergeschlungen, unter dem offenen Fenster, durch das der Wind flüstert.
Durch dieses Fenster kommt später in der Nacht eine Stimme und weckt Nikolaus. Vorsichtig löst er sich aus den Armen seiner Frau, steht auf und geht nach draußen. So weit oben im Gebirge ist die Nacht kühl, selbst im Sommer, und Nikolaus fröstelt, als er zu Hubertus’ Grab geht - von dort ist die Stimme gekommen.
Diese Nacht ist dunkel. Wolken verbergen viele Sterne, und der Mond zeigt sich nur als schmale, blasse Sichel. Als sich Nikolaus dem Grab nähert, sieht er eine Gestalt neben den weißen Steinen und den Blumen, zunächst nur ein Schemen inmitten von Schatten.
»Komm«, flüstert es aus der Dunkelheit. »Komm zu mir, Nikolaus.«
Die Stimme, noch immer leise, ist jetzt deutlicher, und sie hat einen vertrauten Klang. Er hat sie schon einmal gehört, in einem anderen Leben und in einer fernen Stadt.
Ein Fremder steht dort, wie ein Mönch in eine Kutte gekleidet.
»Du«, sagt Nikolaus, und dieses eine kurze Wort trägt das Leid von Tausenden. Er erinnert sich, mit gnadenloser Deutlichkeit, und alter Kummer steigt in ihm auf.
»Du hast mich belogen«, sagt er und tritt noch näher, bis ihn nur noch zwei Meter von der Gestalt mit der Dornenkrone unter der Kapuze trennen. »Ich bin mit zwanzigtausend losgezogen, die mir genauso geglaubt haben wie ich dir, aber uns erwarteten Leid und Tod, kein Ruhm.«
»Ruhm habe ich dir nicht versprochen«, erwidert der Fremde. Seine Stimme ist kühler als der Nachtwind, der über den Hang streicht, und es liegt keine Wärme in den Augen unter der Kapuze. Nikolaus fröstelt erneut.
»Du hast gesagt, dass sich das Meer vor uns teilen würde.«
»Vor einem würdigen Anführer des Kreuzzugs hätte es sich geteilt. Du hast versagt, Nikolaus. Du bist deiner Aufgabe nicht gerecht geworden.«
In den Schatten weiter unten am Hang bewegt sich etwas, und fünf weitere Gestalten nähern sich, wie die erste in Mönchskutten gekleidet. Hinter dem Mann mit der Dornenkrone bleiben sie stehen, die Gesichter unter den Kapuzen verborgen. Nikolaus fragt sich, ob es Engel sind, die Jesus Christus mitgebracht hat, um über ihn zu richten.
»Ich … habe mir alle Mühe gegeben«, sagt er und weiß, dass es stimmt. Er trauert noch immer, nach all den Jahren, um die vielen Kinder und Jugendlichen, die ihm gefolgt und gestorben sind, weil sie ihm vertrauten. »Ich habe den Kreuzzug nach Italien geführt, doch das Meer teilte sich nicht vor uns. Und in Rom, als wir den Papst um Hilfe baten … Er verriet uns. Die Kirche hat uns verraten.« Die Worte klingen sehr bitter und lassen erahnen, was unausgesprochen bleibt: Du hast uns verraten.
Die fünf anderen Gestalten, noch immer nicht mehr als Schatten in der Nacht, murmeln miteinander, und für Nikolaus hört es sich seltsam
an. Ihre Stimmen scheinen Meer und
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