Äon - Roman
im Takt der Musik bewegte.
»Er hat sich gestern auf einen Kampf vorbereitet, der inzwischen stattgefunden haben dürfte. Vielleicht ist er tot.«
»Das täte mir sehr leid«, erwiderte Sebastian hilflos.
»Wir haben Spuren hinterlassen, Fingerabdrücke«, sagte Anna. »Die gleichen Fingerabdrücke wie im Hotel. In Riga eine Schießerei, und in Jugla ein toter ehemaliger Priester. Beide Male waren Sebastian Vogler und Anna Maria Ranzani anwesend. Ich schätze, da gibt es wenig, das Wolfgang in Ordnung bringen könnte.«
Sie klang bitter und lehnte sich zurück.
Eine Zeit lang waren nur das Brummen des Motors und die
aus dem Radio plärrende Musik zu hören. Die Innenstadt lag längst hinter ihnen, und die Fahrt ging über schlechter werdende Straßen, vorbei an langen, farblosen Wohngebäuden mit vernachlässigten Gartenanlagen. Die Sonne schien, aber hier wirkte der Tag grau.
»Wie kommt sie in meinen Kopf?«, murmelte Sebastian nach einer Weile.
»Was?«
»Nikolaus’ Stimme. Wie kommt sie in meinen Kopf? Wieso erinnere ich mich an sein Leben?«
»Keine Ahnung.« Etwas sanfter fügte Anna hinzu: »Vielleicht hat Raffaele dir nicht nur die Saat des Bösen gegeben, sondern auch noch etwas anderes.«
Die Saat des Bösen … Aus ihrem Mund klang es wie ein biblischer Fluch.
Vielleicht hat er dir noch etwas anderes gegeben.
Sebastian hörte das Echo der Worte in seinem Innern, in der Nähe jener anderen Stimme, und das Flüstern veränderte sich. Es klang nicht mehr spöttisch, sondern argwöhnisch. Was? , fragte es. Was hat er dir gegeben, außer mir?
Ein Lidschlag machte aus Budapest ein kalabrisches Dorf.
Das Leben verlässt einen alten, gebrechlichen Leib.
Nikolaus liegt in dem Bett, das er mehr als vierzig Jahre mit Elisa geteilt hat, und er weiß, dass es sein Totenbett wird. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit, und deshalb hat er seine drei Söhne zu sich gerufen: Daniele, Francesco und Giacomo. Sie haben selbst Kinder, und Nikolaus hört sie im Zimmer nebenan, obwohl sie versuchen, ganz leise zu sprechen und ihn nicht zu stören. Er hätte seine Enkel gern noch einmal gesehen, aber das, was er zu sagen hat, ist nichts für sie.
Ein Gesicht erscheint über ihm, von Falten gezeichnet und von grauem Haar gesäumt. Es ist das Gesicht einer alten Frau, die ihr Leben lang hart gearbeitet hat. Doch Elisas Augen sind jung geblieben, und der Glanz in ihnen hat sich nicht getrübt. Jetzt glänzen sie noch etwas mehr im Schein der Kerze auf dem Nachtschränkchen, denn es schwimmen Tränen in ihnen. Sie versucht, nicht zu weinen, wie sie es ihm versprochen hat, doch es fällt ihr sehr schwer.
»Bitte mach das Fenster auf, Elisa«, sagt Nikolaus und fragt: »Ist es Tag oder Nacht?«
»Es ist gerade dunkel geworden, Vater«, antwortet Daniele, der Erstgeborene. »Und es hat zu regnen begonnen.«
»Macht das Fenster trotzdem auf«, sagt Nikolaus und ringt sich ein Lächeln ab. »Lasst mich den Regen riechen und hören.«
Und er riecht und hört ihn, den kalten Regen des beginnenden Winters. »Dies ist der letzte Abend meines Lebens«, sagt Nikolaus, und Elisa wendet sich ab, um ihre Tränen zu verbergen. »Kommt näher, meine Söhne, kommt näher.«
Daniele, Francesco und Giacomo treten ans Bett und blicken ernst auf ihren Vater hinab.
»Ich habe euch bereits das Versprechen abgenommen, dass ihr euch um eure Mutter kümmert«, sagt Nikolaus und hört, halb verloren im Rauschen und Prasseln des stärker werdenden Regens, ein Geräusch, das ein leises Schluchzen sein könnte. »Jetzt geht es um ein Versprechen, das ich einst gegeben habe, in einer Nacht vor mehr als vier Jahrzehnten.« Er dreht ein wenig den Kopf und sieht Elisa im flackernden Schein der Kerze weiter hinten. »In der Nacht unserer Hochzeit. Ich gab es einem Mann, dem ich zum ersten Mal in Köln begegnete, als ich ein Junge war, nicht älter als zwölf Jahre. Treue schwor ich ihm, den ich für den Sohn des Herrn hielt, aber …« Das Sprechen fällt ihm plötzlich schwer; etwas scheint ihm den Hals zuzudrücken. Der junge Giacomo reicht ihm ein
Glas und hilft ihm dabei, einen Schluck Wasser zu trinken. »Für Jesus Christus habe ich ihn gehalten, damals in Köln, und dann auch hier, als er mir erneut erschien …«
Nikolaus keucht und ringt nach Atem. Heiß und gleichzeitig kalt ist ihm, als das Fieber zurückkehrt, Körper und Geist die Kraft nimmt. Giacomo stellt das Glas beiseite und wischt ihm die Stirn ab.
»Er warf mir vor, versagt
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