Äon - Roman
auflösten und modernen Häusern wichen - seine Wahrnehmung kehrte ganz in die Gegenwart zurück. Er registrierte die auf dem breiten Bürgersteig vorbeikommenden Passanten, Touristen und Einheimische, fühlte den einen oder anderen ihrer Blicke.
»Raffaele …«, sagte er und sah Anna an. »Er ist ein Nachkomme von Nikolaus. Die Sechs haben ihn fast acht Jahrhunderte vor seiner Geburt zu ihrem Werkzeug gemacht.«
Sebastian stieß sich von der Wand ab und deutete zum Taxistand an der nächsten Ecke. »Wie müssen so schnell wie
möglich zu Béla.« Er nahm die Reisetasche und Annas Hand, ging zielstrebig los.
Nach drei Schritten taumelte Sebastian, und die Knie wurden ihm so weich, dass er sich erneut an der Wand abstützen musste.
»Verdammt!«, stieß er hervor und meinte die eigene Schwäche. » Verdammt!«
Anna blieb vor ihm stehen, und ihr Gesicht zeigte Entschlossenheit. »Wir fahren zu Béla, aber wenn er dir nicht helfen kann … Dann bringe ich dich ins nächste Krankenhaus.«
Sebastian wollte widersprechen, aber sie gab ihm keine Gelegenheit dazu.
»Ich meine es ernst, Bastian. Du müsstest dich selbst sehen! Wir sprechen mit Béla, und wenn du bei ihm keine Hilfe bekommst, nehme ich die Sache in die Hand. Hast du verstanden?«
Sebastian nickte.
Eine Minute später stiegen sie in ein Taxi. Sebastian setzte sich in den Fond, und Anna nahm neben ihm Platz. Sie holte Anatolis Zettel hervor und zeigte ihn dem Fahrer, einem jungen Mann mit struppigem Haar, der daraufhin nickte und losfuhr.
»Wir haben ein Problem«, sagte sie und sprach leise, obwohl der Fahrer vermutlich kein Italienisch verstand.
»Nur eins?«
Anna rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Geld. Ich habe nur noch hundert Euro. Und du?«
Sebastian sah nach. »Zweihundert.«
»Damit kommen wir nicht weit.«
»Wir haben Kreditkarten, und hier gibt es Geldautomaten.« Sebastian unterbrach sich. »Oh«, fügte er hinzu.
»Ja. Wir müssen damit rechnen, dass eine internationale Fahndung nach uns läuft, und die Benutzung von Kreditkarten hinterlässt Spuren. Die Geheimdienste sind eingeschaltet. Wer weiß, was alles hinter den Kulissen abläuft. Ich möchte vermeiden, dass uns irgendein James-Bond-Verschnitt erkennt und über den Haufen knallt.«
Sie hatte die Nase voll, das hörte Sebastian ganz deutlich. Und er sah es in ihren Augen.
»Es tut mir leid, Anna«, sagte er. »Wirklich.«
»Ich weiß. Aber das macht es nicht besser. Wenn Béla sich als Misserfolg herausstellt, fahren wir zum nächsten Krankenhaus und stellen uns. Wir erklären alles.«
»Wir haben auch in Riga alles zu erklären versucht.«
»Wir hätten etwas mehr Geduld haben sollen.«
»Glaubst du wirklich, Anna? Glaubst du, dass es so einfach ist? Wer macht sich hier etwas vor?«
»Béla«, wiederholte Anna mit fester Stimme. »Und anschließend das Krankenhaus. Du brauchst dringend Hilfe, Bastian. So kann es nicht weitergehen.«
Sebastian schaute aus dem Fenster, beobachtete die Menschen und den Verkehr. »Wolfgang könnte uns vielleicht helfen«, sagte er leise und bedauerte einmal mehr, dass er sein Handy im Reval Hotel Latvija zurückgelassen hatte. Dann fiel ihm ein: Im Café hatte es vermutlich einen Festnetzanschluss gegeben, und mit dem wäre er in der Lage gewesen, Wolfgang Kessler in Hamburg zu erreichen. Warum dachte er erst jetzt daran?
Das Flüstern tief in ihm schien eine wortlose Antwort zu geben, und Sebastian fragte sich erneut, wie viel von seinen Gedanken und Gefühlen eigentlich noch ihm gehörte. Vielleicht hatte Anna recht. Seine Veränderung entsetzte ihn ebenso wie
sie, und vielleicht war es wirklich besser, ein Krankenhaus aufzusuchen und die Hilfe in Anspruch zu nehmen, die man nur dort leisten konnte.
Anna behielt das Taxameter im Auge. »Ist es noch weit?«, fragte sie den Fahrer.
Der junge Bursche drehte kurz den Kopf. »Nicht mehr weit«, antwortete er auf Englisch. »Bald da.« Er schaltete das Radio ein. »Schöne Musik, ja?«
»Wie sollte Wolfgang dir helfen können?«, fragte Anna.
Sebastian vermutete, dass sie die Nephilim-Saat in seinem Bewusstsein meinte, die verdammte Stimme, die ihn manchmal verspottete und auf etwas zu warten schien, vielleicht auf einen Moment der Schwäche.
»Er hat Verbindungen, Anna. Vielleicht könnte er das mit der Polizei und der Fahndung klären.«
»Glaubst du? Was ist mit Anatoli?«
Sebastian sah sie verwirrt an. »Ich verstehe nicht ganz …«
Anna blickte zum Fahrer, der den Kopf
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