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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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zu haben, und ich …« Nikolaus hustet, und als Elisa am Bett vorbeieilt, um das Fenster zu schließen, sagt er hastig: »Nein. Bitte, lass es offen.« Und zu seinen Söhnen, die ernst auf ihn herabblicken: »Ich versprach, ihm treu zu bleiben, und dieses Versprechen betraf nicht nur mich, sondern auch dich, Daniele, meinen damals noch ungeborenen Sohn, und alle seine Nachkommen. Aber …«
    Das Sprechen fällt Nikolaus immer schwerer. Etwas will ihn daran hindern, die letzten Worte auszusprechen.
    »Aber … es war falsch, Daniele. Hörst du? Und auch ihr, Francesco und Giacomo, die ihr nicht direkt betroffen seid … Habt ihr gehört? Es war falsch! Ich hätte es nicht versprechen dürfen, denn der Mann, der mir den Treuschwur abnahm … Ich weiß jetzt, wer und was er ist. Er …«
    Plötzlich fehlt ihm Luft, und die letzten Worte, vielleicht die wichtigsten seines Lebens, bleiben unausgesprochen. Nikolaus sieht zu seinen Söhnen und zu Elisa auf, die jetzt neben ihnen steht, die Wangen feucht, und seine Lippen beben kurz, wie in einem verzweifelten Versuch, den letzten Satz zu beenden. Stattdessen endet sein Leben.
     
    Mit geschlossenen Augen liegt der Tote im Bett, neben dem offenen Fenster, durch das der Wind die Nässe des kalten Regens weht. Elisa sinkt neben ihm auf die Knie, und während sie weint, löst sich vager Dunst von Nikolaus’ Lippen. Er bildet eine kleine Wolke, von gewöhnlichen Augen nicht wahrnehmbar, die wie suchend umherschwebt und dann ein Ziel findet. Der älteste der drei Söhne des Toten schwankt kurz, als die kleine
Wolke seine Lippen berührt, und ein tiefer Atemzug lässt den grauen Dunst in ihm verschwinden.
     
    Nicht weit vom Haus am Rand des Dorfes entfernt ruht Nikolaus neben seinem alten Freund Hubertus. Als das neue Jahr beginnt, bedeckt Schnee die Grabsteine, und die Felsen an den Hängen tragen eine glitzernde Schicht aus Eis. Dies wird dem jungen Giacomo zum Verhängnis: Eines Nachmittags im Januar rutscht er aus, fällt und prallt mit dem Kopf gegen einen scharfkantigen Stein. Er verliert sofort das Bewusstsein und stirbt, ohne es wiederzuerlangen.
    Francesco verlässt zwei Jahre später das kleine kalabrische Dorf, um sein Glück in einer Stadt zu versuchen. Als Schuster lässt er sich in Neapel nieder, doch nach wenigen Monaten erkrankt er an Cholera und endet zusammen mit anderen Epidemieopfern in einem Massengrab.
    Daniele bleibt in dem Ort am Hang des Aspromonte und erreicht ein hohes Alter. Er hat zwei Söhne. Einer von ihnen stirbt früh an einem Fieber, doch der andere wächst auf, heiratet und hat seinerseits Söhne …
    Jahre vergehen, Jahrhunderte, bis fast achthundert Jahre verstrichen sind und das Herz der Welt erneut schlägt.
     
    »Bastian, um Himmels willen!«
    Er schnappte nach Luft, als hätte er seit einer Minute oder mehr nicht mehr geatmet, erfüllt von einem Chaos, das nicht einen klaren Gedanken zuließ. Zuerst wusste er nicht einmal, wer er war und wem das Gesicht gehörte, dessen große Augen ihn erschrocken ansahen, oder das zweite Gesicht, das des Mannes auf dem Vordersitz, in dem sich Neugier und Abscheu zeigten. Dann kehrte alles zurück, wie ein mentaler Tsunami, der sein Bewusstsein zu zerschmettern drohte.
    »Er was geschluckt?«, fragte der Taxifahrer. »Oder er vielleicht
krank?« Er drückte sich gegen die Autotür, als fürchtete er Ansteckung, und zeigte aufs Taxameter. »Elftausendfünfhundert Forint.«
    »Und in Euro?«, fragte Anna.
    »Fünfzig.«
    »Er ist tot«, brachte Sebastian hervor. »Nikolaus ist tot.«
    »Das ist er seit achthundert Jahren.« Anna ergriff sein Gesicht mit beiden Händen. »Du bist wach und hier bei mir. Es ist vorbei.« Sie zögerte, bevor sie den Blick von ihm abwandte und nach draußen sah. »Sind Sie sicher, dass dies die richtige Adresse ist?«
    »Ja«, sagte der Fahrer. »Fünfzig Euro.«
    Sebastian schwebte noch immer zwischen den Welten und beobachtete, wie Anna den Fahrer bezahlte, auf ihrer Seite ausstieg, um den Wagen herumging und ihm die Tür öffnete. Sie nahm seine Hand und zog ihn nach draußen.
    »Bitte warten Sie hier«, sagte sie zum Fahrer.
    »Ja, Lady«, erwiderte der junge Bursche mit sorgenvoller Miene.
    Sebastian stand schwankend neben dem Taxi, aus dem Musik durch die stille Straße plärrte. Die Gebäude zu beiden Seiten waren dreistöckig und grau, erweckten den Eindruck, aus Sowjetzeiten zu stammen. Hier und dort fehlte das Glas hinter den Fenstern, und nur in einigen wenigen

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