Äon - Roman
dafür nennen?«
»Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Verdammt, warum sind Sie so verstockt?«, stieß Benjer scharf hervor. »Ich dachte, wir stehen auf der gleichen Seite. Wenn Sie uns helfen, so helfen Sie auch sich selbst. Wir sind alle bedroht.«
»Ich würde Ihnen wirklich gern helfen, glauben Sie mir«, sagte Ignazio, und Aufrichtigkeit lag in seinen Worten. »Aber ich kann nicht.« Was wahr gewesen ist, muss wahr bleiben, erinnerte er sich.
Benjer stieß sich von der Schreibtischkante ab, und zwei oder drei Sekunden stand er ganz dicht vor Ignazio. Dann drehte er sich um und wanderte stumm durchs Zimmer. Ignazios Blick folgte ihm, und die auf der anderen Seite des Tisches sitzende Frau beobachtete ihn ebenfalls.
»Hier in Riga kam es in einem Hotel zu einer Schießerei«, sagte Benjer plötzlich und blieb stehen. »Darin verwickelt waren Simon Krystek und Sebastian Vogler. Ich bin sicher, dass Sie beide Namen kennen, Signor Giorgesi. Krystek wurde verletzt, und Vogler verfolgte ihn, aber er entkam. Wir haben Vogler und seine Frau verhaftet, doch leider …« Er zögerte
kurz. »Sie entkamen ebenfalls, auf eine ganz merkwürdige Art und Weise. Vogler … Er stellte irgendetwas mit meinen Gedanken an, und als meine Mitarbeiterin von ihrer Waffe Gebrauch machte … Er wich der Kugel aus , Signor Giorgesi. Er bewegte sich schneller als ein gewöhnlicher Mensch und schlug Henriette nieder.«
Die Frau auf der anderen Seite des Tisches tastete kurz nach dem Pflaster am Kinn.
Ignazio horchte auf. So wie der Interpol-Mann Sebastian Vogler beschrieb … Gehörte er zu den Sechs? Diese Information war neu. Aber wenn Vogler Krystek verfolgt hatte …
»Wer hat Anatoli Pawel Pawlowitsch umgebracht, Signor Giorgesi? Vogler oder Krystek? Oder vielleicht doch Sie?«
»Ich habe nichts damit zu tun«, betonte Ignazio noch einmal.
»Und warum? Was steckt dahinter? Weshalb interessiert sich der Vatikan für einen alten ehemaligen Priester in der lettischen Provinz?«
Ignazio stand auf. »Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Bitte lassen Sie mich gehen.«
»Oh, haben Sie es plötzlich eilig?« Benjer trat wieder näher und sah ihm in die Augen. »Ich will wissen, was gespielt wird, Signor Giorgesi! Ich habe keine Lust, mich von Ihnen zum Narren halten zu lassen. Dazu ist die Sache viel zu ernst. Heraus mit der Wahrheit.«
Die Wahrheit …, dachte Ignazio.
»Sie können mich nicht festhalten«, erwiderte er fast trotzig. »Sie haben nichts gegen mich in der Hand.«
Es waren die falschen Worte, begriff er nur eine Sekunde später. Benjers Züge verhärteten sich.
»Glauben Sie? Wie wär’s mit Mordverdacht, Signor Giorgesi? In einigen Stunden kehre ich nach Deutschland zurück, und Sie werden mich begleiten. Oder wollen Sie vielleicht diplomatischen Status geltend machen?«
Ignazio rang mit sich selbst. Die Zeit zerrann ihm wie feiner Sand zwischen den Fingern, und je mehr er verlor, desto näher rückte das Unheil.
Benjer sah auf die Armbanduhr. »In vier Stunden, um genau zu sein. Ihnen bleibt noch etwas Zeit, sich aufs Ohr zu legen.«
42
Budapest
S chlafen und Wachen … Manchmal gab es keinen Unterschied für Sebastian, während der Zug durch die Nacht rollte und seine stählernen Räder auf den Gleisen klackten. Der innere Druck hatte ein wenig nachgelassen, aber es war die Ruhe vor dem Sturm, wusste er, und wenn er begann, der innere Orkan … Was sollte dann aus ihm werden? Als er einmal die Augen öffnete, sah er Anna neben sich, den Kopf an seiner Schulter. Sie schlief, das schwarze Haar wie ein Schleier vor ihrem Gesicht, und im Schlaf wirkte sie hilflos und verletzlich. Deutlich sah er das Pulsieren ihrer Halsschlagader, Zeichen des Lebens, und er dachte daran, wie leicht es doch war, dieses Leben, so einzigartig und kostbar, für immer auszulöschen. Ein Messer genügte. Wie das Messer, das der andere Sebastian in der Hand hielt, umgeben von Wänden aus Knochen … Furcht zitterte in ihm, als jenes Bild erneut vor seinem inneren Auge entstand, und er fragte sich, ob es ihm die Zukunft zeigte, den schrecklichen Moment, der ihn zum Mörder machte und den Sieg des Nephilim in ihm bedeutete.
Müdigkeit macht die Lider schwer, und er schloss die Augen wieder. Innerhalb weniger Sekunden wichen die Geräusche
des Zuges dem Zirpen von Zikaden, und aus der Nacht jenseits des Fensters wurde ein weiter, offener Himmel, von dem die kalabrische Sonne brannte. Aber ihr heißer
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