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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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von der Gegenwart trennte.
    Dieser Gedanke war gerade durch den noch halbwegs freien Teil seines Kopfes gezogen, als sich die Linien plötzlich verdoppelten und dann vervielfachten, innerhalb weniger Sekunden überall unentwirrbare Knäuel bildeten. Der Wahrnehmungsfilter funktionierte nicht mehr, oder der Nephilim schuf Lücken darin, groß genug, um Sebastians Sinne zu überfluten.
    Bélas graues Band verschwand in einem Knäuel, das Teil
eines noch größeren Linienknäuels wurde und dann begann, sich zu drehen und zu strecken - eine Orientierung war unter diesen Umständen unmöglich.
    »Anhalten!«, stieß Sebastian auf Englisch hervor und wandte sich diesmal selbst an den Fahrer. »Halten Sie an!«
    Er versuchte, das graue Band festzuhalten, als der Fahrer auf seine Worte reagierte, den Fuß vom Gas nahm und den Seitenstreifen ansteuerte.
    Links neben dem Taxi krachte es, als zwei Autos frontal zusammenstießen.
    Der Taxifahrer trat so abrupt auf die Bremse, dass Sebastian und Anna in die Sicherheitsgurte geworfen wurden. Der Wagen kam zum Stehen, und eine halbe Sekunde später krachte es erneut, als das Auto hinter ihnen gegen das Heck des Taxis prallte. Ihr Chauffeur fluchte hingebungsvoll auf Ungarisch, löste seinen Gurt und stieg aus.
    Eine der Linien, so bemerkte Sebastian jetzt, ging von ihm aus, feuerrot und so heiß, dass er Gefahr lief, sich die mentalen Finger zu verbrennen, als er sie berührte. Sie verschwand in den Knäueln und war unmöglich zu verfolgen, aber er wusste, dass sie zahlreiche andere Linien berührte, und auch einige andere rote, die ihren Ursprung nicht hier in Budapest hatten, sondern in …
    »Paris?«, ächzte er.
    »Mein Gott, Bastian, ich glaube, es hat Tote gegeben …«, sagte Anna bestürzt.
    Andere Fahrzeuge hielten an, und die Insassen eilten zu den beiden Unfallwagen, öffneten ihre Türen und versuchten den Verletzten zu helfen. Der eine Fahrer lag halb in den Resten seiner Windschutzscheibe, blutüberströmt; der andere war angeschnallt
gewesen, hing aber schlaff und leblos in seinem Gurt. Sebastian sah das alles, in tausend Einzelheiten, die ein viel komplexeres Bild ergaben als das von Anna wahrgenommene. Myriaden von Eindrücken strömten auf ihn ein, und er versuchte, nicht auf sie zu achten und allein das im Auge zu behalten, was er wiedergefunden hatte: ein unscheinbares graues Band.
    »Fahr«, sagte er und verzog wie schmerzerfüllt das Gesicht.
    »Was?«
    »Fahr, Anna. Setz dich ans Steuer dieser verdammten Karre und fahr!«
    »Aber …«
    »Gleich kommt es zu einem Verkehrsstau, und dann haben wir keine Chance mehr.«
    »Aber der Unfall, die Toten und Verletzten …«
    »Es ist nicht der einzige verdammte Unfall!« Sebastian schrie fast. »Es geschieht überall, nicht nur hier in Budapest. Überall! Wir müssen Béla erreichen, bevor er Gelegenheit bekommt, die Stadt zu verlassen. Ans Steuer, Anna, ans Steuer!«
    Sie zögerte nicht länger, sprang aus dem Fond, zwängte sich auf den Fahrersitz und drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang sofort an, und Anna gab Gas. Hinter ihnen wandte sich der Taxifahrer von den beiden Unfallwagen ab, ruderte mit den Armen und rief etwas, das sich im allgemeinen Lärm verlor.
    Anna bremste, wich mehreren Schaulustigen aus, entdeckte eine Lücke zwischen den Wagen und gab erneut Gas. Kurze Zeit später lag die Unfallstelle hinter ihnen, und sie kamen schneller voran.
    »Wohin?«, fragte Anna.

    »Geradeaus.« Dort war das graue Band, eine dünne Schlange zwischen Hunderten von dicken. Sebastian griff mit mentalen Händen danach und hielt es fest. »Immer geradeaus.«
    Ein Polizeiwagen kam ihnen mit heulender Sirene und eingeschaltetem Blaulicht entgegen, kurz darauf gefolgt von einer Ambulanz. Rechts floss die Donau träge durch die ungarische Hauptstadt und bot mit ihren Ausflugsschiffen ein trügerisches Bild des Friedens.
    Der Geschmack der Welt veränderte sich, wurde bitter.
    Sebastian wusste genau, was es mit diesem »Geschmack« auf sich hatte, aber es wäre ihm sehr schwergefallen, es jemandem zu erklären, der seine besondere Wahrnehmung nicht teilte. Mitten im Sturm von Myriaden Sinneseindrücken kam es zu einer besonderen Form von Synästhesie: Einer enormen Reizüberflutung ausgesetzt, brachte das Gehirn die sensorischen »Sprachen« durcheinander, machte aus Farben Töne, aus Tönen taktile Informationen, aus Gerüchen vage Melodien … Aber in diesem zusätzlichen Durcheinander, in dem sich Sebastian

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