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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Mann, der ihr Holz
berührt und Rauch durch ihr Mundstück gesogen hatte. Das runde, traurige Gesicht erschien direkt vor ihm, geisterhaft transparent, und in den Augen zeigte sich ein Erschrecken, das Sebastian für eine halbe Sekunde auch in denen des jungen Stadtstreichers gesehen hatte.
    »Bastian!«
    Er hastete weiter, durch den schmutzigen Flur des Gebäudes und nach draußen, blinzelte im Sonnenschein und versuchte, sich zu orientieren.
    »Dieser Typ ist unheimlich«, hörte er eine andere Stimme. Es war die des jungen Burschen, aber sie erklang nicht im Flur hinter Sebastian, sondern im zweiten Stock, wo die abgerissene Gestalt neben der unter dem Fenster schlafenden Frau hockte und zu ihr sprach, obwohl sie noch immer durch wirre Träume irrte. »Du hättest seine Augen sehen sollen, Sala …«
    Weitere Stimmen ertönten, Dutzende, Hunderte, dann sogar Tausende - ein Radio im Innern von Sebastians Kopf schien auf allen Frequenzen gleichzeitig zu empfangen. Er presste die Hände an die Schläfen, aber das Chaos dauerte nicht lange. Innerhalb weniger Sekunden lernte er, einen mentalen Filter zu konstruieren, der aus dem Dröhnen und Schrillen ein dumpfes Brummen machte, in dem er, wenn er wollte, einzelne Stimmen erkennen konnte. Dass es ihm gelang, so schnell Herr dieser Wahrnehmungsflut zu werden, erfüllte ihn mit Zufriedenheit - bis er plötzlich begriff, dass nicht er es war, der sie unter Kontrolle brachte, sondern der Nephilim in ihm. Das fremde Geschöpf in ihm wuchs weiter, schneller und gefährlicher als der Tumor.
    Die Hände, die die Pfeife hielten, zitterten.

    An der Straße blieb Sebastian stehen und schwankte wie ein Baum im Wind.
    »Anna …«
    »Ich bin hier, Bastian«, sagte sie neben ihm.
    »Hol uns ein Taxi, Anna.« Die Worte fielen Sebastian seltsam schwer, und gleichzeitig empfand er sie als ungenügend, denn sie brachten nur einen winzig kleinen Teil von dem zum Ausdruck, was er Anna mitteilen wollte. »Ich habe seine Spur gefunden. Béla ist noch in der Stadt, aber er will sie bald verlassen, und dann verliere ich ihn vielleicht.«
    Der Wind fuhr durch Annas schwarzes Haar, als sie nickte. »Warte hier auf mich. Ich bin gleich wieder da.«
    Sie lief los, um ein Taxi zu rufen.
     
    Die Welt schien aus Millionen von Linien zu bestehen, manche so dünn, dass Sebastian sie kaum wahrnehmen konnte, andere dick wie Schiffstaue, und sie alle bewegten sich träge, wie besonders lang geratene und in Zeitlupe gefangene Schlangen. Sie krochen durch eine Welt, die aus Häusern, Straßen, Verkehr und Menschen bestand, aber es war doch eine andere Welt, erfüllt von Farben, die seltsam grell oder auch unerwartet matt sein konnten. Ihre unterschiedlichen Töne und Intensitäten, das subtile Spiel von Licht und Schatten, an dem die Sonne kaum beteiligt war, die vielfältigen Geräusche, viel mehr als nur das Brummen von Motoren und Stimmen, ein Durcheinander aus Klimpern, Zirpen und einem auf- und abschwellenden Heulen, das manchmal fast wie eine Melodie klang, dann wieder schrill und disharmonisch - das alles lieferte eine Fülle von Informationen, doch Sebastian verstand nur einen Bruchteil von ihnen. Die Kreatur in ihm saugte alles auf,
jeden noch so leisen Ton, jede noch so blasse Farbe, und sie nahm noch andere Dinge wahr, die Sebastian verborgen blieben, weil es seinem Sinnesapparat an Rezeptoren fehlte. Sie verstand viel mehr als er und übte immer größeren mentalen Druck aus.
    »Die nächste Straße … nach rechts«, krächzte Sebastian. Das Sprechen bereitete ihm immer mehr Mühe, während er halb in jener anderen Welt weilte und der dünnen Linie folgte, die Béla auf seiner Flucht - und es war eine Flucht - hinterlassen hatte. Anna gab die Anweisung an den Fahrer des Taxis weiter.
    Das Heulen in der Ferne verlor erneut seinen melodischen Aspekt und wurde so laut, dass Sebastian aus einem Reflex heraus die Hände an die Ohren presste. Natürlich konnte er dem Lärm auf diese Weise nicht entkommen, und so versuchte er, ihm keine Beachtung zu schenken, sich ganz auf das kleine graue Band zu konzentrieren, eine dünne Linie unter den vielen, die durch die Straßen von Budapest führten, jede von ihnen die Spur eines Menschen. Sebastian wusste, dass noch viel mehr Linien existierten, Spuren von allen Menschen - und nicht nur Menschen -, die sich im Lauf der Jahrtausende an diesem Ort aufgehalten hatten, und er war dankbar dafür, dass er allein jene sah, die eine nur geringe zeitliche Distanz

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