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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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orientieren musste, übernahm der Geschmackssinn eine ordnende und vereinfachende Rolle, und als er Bitterkeit meldete, begriff Sebastian, dass eine wichtige weltweite Veränderung stattgefunden hatte. Der Nephilim in ihm nahm sie mit Freude zur Kenntnis.
    Das Herz der Welt schickte sich an, erneut zu schlagen, nach fast achthundert Jahren, und damit rückte der Augenblick der Entscheidung näher.
    Der Wahrnehmungsfilter in Sebastian hob sich wie ein Schleier, und plötzlich schwamm er in einem unermesslichen Ozean, in dem jeder einzelne Tropfen eine Geschichte zu erzählen hatte. Er hörte sie alle, die unzähligen flüsternden und
raunenden Stimmen, und in diesem einen Sekundenbruchteil, in dem Sebastian der vollen Informationsflut ausgesetzt war, gewann er einen Eindruck von der enormen Tragweite der Ereignisse, in die er durch den Kontakt mit Raffaele verwickelt worden war.
    »Wohin jetzt, Bastian? Wohin?«
    Annas Stimme kam aus einer Welt, die ihm auf einmal klein erschien, klein und unvollständig , weil ihr ein wichtiger Bestandteil fehlte.
    Der Herzschlag der Welt, dachte ein kleiner, beobachtender und analysierender Teil von Sebastian, und er ahnte, dass es ein Teil der Antwort auf die Frage nach dem Warum war. Vielleicht kannte Béla den Rest.
    »Bastian?«
    »Nach rechts, auf die andere Seite der Donau, und dann nach Süden, in Richtung Stadtrand.« Weiter vorn sprang eine Ampel auf Rot. »Halt nicht an. Nach rechts, auf die Brücke.«
    Weitere Sirenen heulten in der Stadt, und Sebastian erkannte den Grund dafür, als es ihm gelang, einzelne Szenen der an seinem inneren Auge vorbeirasenden Bilder festzuhalten. Er sah …
    Ein großer Lastwagen war von der Straße abgekommen und über den Bürgersteig in den Eingangsbereich eines Kaufhauses gerast. Überall lagen Glassplitter, zertrümmerte Einrichtungsgegenstände und Blechteile. Unter dem Laster … die zerrissenen Körper von zwei Menschen, kaum mehr als solche erkennbar. Einige andere hatte er beiseite oder nach vorn geschleudert; mehrere von ihnen waren tot, unter ihnen ein kleines Kind. Die Mutter hielt es in den Armen und schien nicht begreifen zu können, was gerade geschehen war. Der Fahrer … Er lebte, saß
am Steuer und starrte ins Nichts. Eine zitternde Linie ging von ihm aus und war mit einer der roten verbunden …
    Sebastians Wahrnehmung blieb fast ohne Distanz. Er schien direkt an den Dingen beteiligt zu sein, die in Budapest und überall auf der Welt geschahen …
     
    Menschen springen von hohen Balkonen, prallen auf die Straße, auf Autos oder Passanten.
    Neben dem Operationssaal eines Krankenhauses dreht jemand das Ventil eines Sauerstofftanks auf, wartet lange genug und entzündet ein Feuerzeug.
    In einem sibirischen Fernwärmekraftwerk schließt jemand die Hauptleitungen, ohne dass die Boiler heruntergefahren werden. Es dauert nicht lange, bis der Druck ein kritisches Niveau erreicht und es zur Explosion kommt.
    In der Ukraine versagt der Lift eines Kohlebergwerks, als jemand in der Schaltstation aufspringt und wahllos Tasten drückt. Seine Kollegen versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen; der Mann schlägt zwei von ihnen nieder, bevor es den anderen gelingt, ihn zu überwältigen. Als er am Boden liegt, entdeckt er einen heruntergefallenen Schraubenzieher, bekommt ihn zu fassen und rammt ihn sich in den Hals. Blut strömt aus der Wunde, und als das Leben den zuckenden Körper verlässt, kommt eine kleine graue Wolke aus dem offenen Mund, wie kondensierender Atem. Die anderen Männer sehen sie nicht, aber Sebastian beobachtet, wie sie aufsteigt, die Decke durchdringt und sich den anderen kleinen grauen Wolken hinzugesellt, die aus dem Schacht kommen, in dem der Aufzug mit vierzehn Bergleuten in die Tiefe gestürzt ist. Einige Sekunden verharren sie über den Gebäuden, unbeeinflusst von Wind und Regen, und dann, von menschlichen Augen nicht wahrgenommen, fliegen sie in westliche Richtung.

    Im Nordwesten von London gerät ein Rettungshubschrauber über der M1 ins Trudeln. Unten haben sich fast achtzig Fahrzeuge ineinander verkeilt, und Rettungskräfte sind noch immer damit beschäftigt, Verletzte zu bergen. Zwei andere Hubschrauber sind bereits gelandet, und auch dieser ist unterwegs, um Schwerverletzte aufzunehmen und ins nächste Krankenhaus zu bringen. Doch der Pilot sieht nicht mehr, wohin er fliegt. Er schreit wie jemand, der Höllenqualen leidet, und schlägt dabei auf den Mann an seiner Seite ein. Der Hubschrauber taumelt über

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