Äon - Roman
einmal ein Papierschnipsel. Er hat darauf geachtet, nichts zurückzulassen, das einen Hinweis geben könnte.« Er lauschte in die Leere der Wohnung und hörte ein Echo aus der Vergangenheit: Eile, Sorge, sogar Furcht.
»Kein Hinweis?«
Sebastian drehte sich um und richtete den Blick auf Anna. Hinter ihr, im anderen Zimmer, stand der junge Mann und sah ihn über Annas Schulter hinweg an, wobei sich in seinem Gesicht etwas veränderte. Etwas schien ihn erschreckt zu haben.
»Er wollte verschwinden, ohne dass man seine Spur verfolgen kann«, sagte Sebastian. »Er muss gewusst haben, dass sie unterwegs sind.«
»Du meinst …« Anna dachte nach. »Vielleicht hat Anatoli ihm irgendwie eine Nachricht zukommen lassen.«
»Aber wie konnte er praktisch über Nacht umziehen und alle seine Sachen mitnehmen, ohne dass irgendetwas zurückblieb?« Sebastian wandte sich an den jungen Burschen hinter Anna und wiederholte die Frage auf Englisch.
»Oh, Béla hatte nicht viel, nur ein paar Sachen. Lebte allein. Ein netter Bursche. Ja, wirklich nett, nicht wie die anderen. Hatte nichts gegen uns.« Er schniefte und steckte die Flasche in eine Tasche der schmutzigen Jacke.
Sebastian sah ihn mit neuem Interesse an. »Wenn er so nett war … Haben Sie irgendetwas von ihm? Einen Gegenstand, der sich einmal in seinem Besitz befand oder den er berührt hat?«
Der junge Bursche hob erst verwundert die Brauen und kicherte dann. »He, Mann, wollen Sie vielleicht daran schnuppern und Witterung aufnehmen oder so?
»Denken Sie nach!«, sagte Sebastian scharf. Er ging durch das große leere Zimmer zur Tür, trat an Anna vorbei und blieb dicht vor dem zerlumpten jungen Mann stehen. »Haben Sie irgendetwas, das Béla einmal in der Hand gehalten hat?«
Der junge Mann starrte ihn an und wankte einen Schritt zurück. »Was? Ja. Ja, ich glaube schon. Oben in Salas Bude.«
»Holen Sie es, bitte«, sagte Sebastian. »Das heißt, nein, wir begleiten Sie. Komm, Anna.«
Sie verließen die Wohnung und gingen die Treppe hoch. Der Druck in Sebastians Kopf wurde stärker, und er hob die Hände und massierte sich die Schläfen, wie all die Monate zuvor, als hinter seiner Stirn ein Krebsgeschwür gewachsen war. Oben erwartete sie eine Wohnung, die nicht ganz so leer war. Decken, Kissen und Matratzen lagen in den Zimmern verstreut, außerdem Unrat aller Art: leere Flaschen, zerknüllte Dosen, Tüten, Abfälle in den Zimmerecken. In einem kleinen Raum schlief jemand direkt unter dem Fenster, halb zusammengerollt unter einer dünnen Decke. Man sah nicht viel mehr als schulterlanges zerzaustes Haar, aber Sebastian wusste sofort, dass es eine junge Frau war, verloren in Drogenträumen.
Das Zimmer nebenan war etwas größer, und der junge Bursche deutete auf eine von mehreren Matratzen. »Hier schlafe ich«, sagte er.
»Was hat Béla berührt?«, stieß Sebastian hervor. »Geben Sie es mir.«
Der junge Mann suchte in einem Durcheinander aus verschiedenen Dingen, fand schließlich eine Pfeife und richtete sich wieder auf. »Vor ein paar Tagen haben wir zusammen geraucht. Dabei hat er von seltsamen Dingen gesprochen …«
Sebastian nahm die Pfeife - er riss sie dem Jungen praktisch aus der Hand - und hob sie so dicht vors Gesicht, dass er die kalte Asche im Pfeifenkopf roch. Er sah das Holz, dunkelbraun, nicht mehr glänzend, sondern matt und zerkratzt, und als er die inneren Augen öffnete - es war jetzt ganz einfach -, sah er einen dicklichen, schlicht gekleideten Mann mit tiefen Falten im Gesicht, einer rötlichen Nase und wässrigen Augen. Eine Aura von Melancholie umgab diesen Mann, und …
Bilder flogen ihm entgegen, wie vom Wind aufgewirbeltes Laub, und er versuchte die wichtigsten von ihnen zu erkennen: Budapest, bei Sonnenschein und Regen, im Sommer und im Winter, überfüllte Straßen, der Gestank von Abgasen, aber auch die grüne Besinnlichkeit von Parks, ruhige Augenblicke auf einer Bank, am Ufer eines Teichs, auf dem Enten mit metallisch glänzenden Federn schwammen - Erinnerungen eines Mannes, der nur wenige Jahre jünger war als Anatoli in Jugla.
»Bleib stehen, Bastian!«, rief Anna. Ihre Stimme kam von hinten und oben. Sebastian sah die eigenen Füße, wie sie über die Stufen der Treppe nach unten eilten, entschlossen und zielstrebig, als wüssten sie genau, wohin sie den Körper tragen mussten. Und er sah die Pfeife in seinen Händen, wie eine Wünschelrute ganz besonderer Art: ein Anker in Zeit und Raum, noch immer verbunden mit dem
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