Äon - Roman
der Autobahn, verliert immer mehr an Höhe und kracht auf einen der gelandeten Helikopter. Flammen schießen hoch, und Trümmerteile fliegen umher. Einer der Notärzte, die sich um die Verletzten kümmern, wird von einem Rotorfragment geköpft.
Sebastian keuchte und hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er schaute nach vorn und stellte fest, dass sie sich dem Ende der Brücke näherten.
»Nach links«, krächzte er. »Am anderen Ufer entlang. Schneller, Anna, schneller!«
»Wenn ich noch schneller fahre, riskiere ich einen Unfall!«
Im Hamburger Hafen erschießt der Kapitän eines Containerschiffes den Steuermann auf der Brücke, fährt die Maschine hoch und richtet den Bug des Schiffes auf den noch fernen Anlegeplatz. Der Schlepper an der Seite des stählernen Riesen muss ausweichen, um nicht gerammt zu werden.
Ein Intercity rast auf den Bahnhof von Warschau zu. Vorn in der Lok sitzt ein Mann an den Kontrollen, der sich noch vor wenigen Minuten auf Feierabend und Familie gefreut hat. Jetzt starrt er ins Leere und streckt langsam die Hand nach dem Geschwindigkeitsregler aus. Der Zug wird nicht langsamer, sondern noch schneller.
Die Welt glich einer Bühne, auf der das Orchester des Lebens spielte. Seine Symphonie war komplex und erklang ohne die Hilfe eines Dirigenten. Zeit - Millionen von Jahren - hatte einen Grundrhythmus geschaffen, die Richtmelodie der Evolution, doch es gab reichlich Platz für Improvisationen, und nicht alle von ihnen fügten sich harmonisch in das Ganze ein. Von Anfang an hatte es Disharmonien gegeben, geschaffen von Zorn, Schmerz und Tod, und sie bildeten ebenfalls eine Art Grundton, ein dumpfes Brummen, das die Konzertkonstruktion vollständig durchdrang. Während Anna mit mehr als achtzig Stundenkilometern in Richtung Süden durch Budapest fuhr und immer wieder anderen Fahrzeugen auswich, hörte Sebastian, wie sich dieser Grundton durch die vielen kleinen und großen Tragödien auf der Welt veränderte, wodurch die ganze Symphonie einen anderen Klang gewann - aus einer Dur-Tendenz schien ein düsteres Moll zu werden. Und während dies geschah, während mehr Tod und mehr Schmerz die Musik der Welt in ein Requiem verwandelten, schickte sich neben der Welt - nur getrennt durch eine Membran, so dünn wie die Oberflächenspannung des Wassers und so fest wie eine Stahlwand, dachte Sebastian und fragte sich, woher dieser Vergleich stammte - etwas an, einen kolossalen Gong erklingen zu lassen oder auf eine gewaltige Trommel zu schlagen. Der Herzschlag der Welt.
Ein dunkler Wagen, alt und schmutzig, hält an einer Tankstelle, und ein dicklicher, schlicht gekleideter Mann mit tiefen Falten im Gesicht, einer rötlichen Nase und wässrigen Augen steigt aus. Er öffnet den Tank und greift nach dem Zapfhahn. Auf der breiten Straße neben der Tankstelle heult eine Sirene, und Autos weichen zur Seite, als ein Streifenwagen
und eine Ambulanz in Richtung Stadtmitte jagen. Der Mann mit dem Zapfhahn in der rechten Hand wirkt sehr kummervoll, aber er hat auch Angst und sieht sich mehrmals besorgt um.
»Dort vorn nach rechts!«, stieß Sebastian hervor.
»Das ist eine Einbahnstraße.«
»Dann die nächste. Nach rechts, Anna, nach rechts! Er hat an einer Tankstelle gehalten. Wir sind gleich bei ihm.«
Er sank im Fond des Taxis zurück, den Kopf voller Stimmen und Farben, die Augen voller wirrer Bilder und in den Ohren die vom Orchester des Lebens gespielte Symphonie, immer düsterer und dunkler.
»Sie stecken dahinter«, sagte er und sah, wie sich die roten Linien schneller durch die bunten Knäuel der anderen Bänder wanden, als hätte sie etwas in Aufregung versetzt.
»Was?« Anna trat auf die Bremse und wich einem plötzlich ausscherenden Lieferwagen aus, drehte das Steuer dann nach rechts und gab wieder Gas.
»All die Unfälle«, sagte Sebastian und staunte erneut über die Unzulänglichkeit gewöhnlicher Sprache. Die anderen konnten innerhalb weniger Sekunden weitaus mehr Informationen übermitteln, mit Bildern und synästhetischen Reizen. »Es geschieht überall auf der Welt. All der Schmerz und das Leid, der Tod … Es ist … Wachstum für sie.«
»Für sie?«, fragte Anna und wagte einen kurzen Blick in den Rückspiegel. »Die Sechs? Die Nephilim?«
Wachstum, dachte Sebastian und fühlte sich einer weiteren wichtigen Erkenntnis auf der Spur. Die fremde Präsenz in ihm, die sein Selbst zu zerquetschen versuchte, heulte und kreischte. Aber hinter all dem mentalen
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