Äon - Roman
Wind und Meer klang, konnte sie auch selbst benutzen, wenn er sich Mühe gab. Er fühlte wie Yvonne und Granville, vielleicht auch wie Deveny, doch etwas sagte ihm, dass er nie ganz so werden konnte wie sie. Sosehr er auch wuchs, und so leise auch die menschliche Stimme tief in ihm wurde, die noch immer, ungehört, um Hilfe rief: Etwas unterschied ihn von den anderen.
Als sie an einem Platz stehen blieben, auf dem ein großer Steinsockel mit einem Löwen stand - »A La Défense Nationale« stand auf ihm geschrieben -, sah Raffaele zu Yvonne auf. »Warum bin ich anders?«, fragte er. »Warum bin ich anders als ihr?«
Dario Deveny sah ihn an. Raffaele mochte ihn nicht, und
erst recht nicht seinen Blick, der tief in ihm etwas berührte und dabei wehtat.
Wieder fühlte er Yvonnes Hand auf der Schulter, aber sie schien jetzt schwerer zu sein. »Hab Geduld«, antwortete sie. »Hab Geduld. Siehst du das dort?« Sie deutete auf ein kleines Haus, das aus grünblauem Metall zu bestehen schien und recht alt wirkte. »Dort ist der Eingang zu den Katakomben. Heute Abend gehen wir hinab und besuchen den Ort, an dem wir vor zweihundert Jahren Vorbereitungen getroffen haben. Bald, Raffaele, bald.«
Sie nannte ihn immer Raffaele, dachte er. Wann sprach sie ihn mit seinem richtigen Namen an? Wann erinnerte er sich endlich an diesen Namen?
»Und bis dahin …«, sagte Deveny. Er hob den Blick, und auf der nahen Straße stießen zwei Autos zusammen.
44
Budapest
W ohin ist er verschwunden?«, fragte Sebastian, als er zusammen mit Anna langsam durch die leere Wohnung ging. Selbst ausgeräumt war sie sauberer als das Treppenhaus; Béla hatte ganz offensichtlich darauf geachtet, nichts zurückzulassen, nicht einmal Schmutz.
Der junge Bursche in der zerlumpten Kleidung begleitete sie, und Sebastian stellte fest, dass er ein wenig hinkte. »Er war echt nett«, sagte er in einem erstaunlich guten Englisch. »Hatte nichts dagegen, dass wir hier im Haus übernachten. Er lud uns sogar dazu ein, als die anderen ausgezogen waren. Hielt als Einziger durch.«
»Er hielt durch?«, fragte Anna. Sie blieb stehen, aber Sebastian setzte den Weg fort.
»Gegen die Baugesellschaft«, antwortete der junge Stadtstreicher und schniefte laut. »Gegen die Typen mit der dicken Birne.«
»Mit der was?«
»Er meint eine Abrissbirne«, sagte Sebastian geistesabwesend und spürte Annas erstaunten Blick im Nacken. Ohne sich umzudrehen, fügte er auf Italienisch hinzu: »Ich hab’s in seinen Gedanken gesehen.«
Er sah noch andere Dinge im Kopf des jungen Mannes: weitere Gedanken, wirr und konfus, Fragmente davon, untermalt von Gefühlen. Fransige mentale Schatten durchdrangen dies alles, das Ergebnis von Alkohol und Drogen. Sebastian sah es ohne Interesse oder Anteilnahme; seine Aufmerksamkeit galt vor allem der Suche nach etwas, das ihm den Weg zu Béla zeigen konnte. Etwas trieb ihn an und ließ keinen Platz mehr für andere Überlegungen. Er gewann den Eindruck, im eigenen Kopf immer weniger Platz zu haben - die fremde Präsenz, der wachsende Nephilim, nahm mehr und mehr Raum ein.
»Mit der großen Birne«, wiederholte der junge Bursche und schniefte erneut. »Für den Abriss. Die Typen, die hier alles umhauen wollen. Sie machen erst alles dem Erdboden gleich und errichten dann neue Gebäude, mit Büros und so. Jede Menge Glas und Beton.«
Sebastian suchte im größten Zimmer der leeren Wohnung die Ecken ab und hörte hinter sich ein gluckerndes Geräusch - der Stadtstreicher nahm einen Schluck aus seiner Flasche.
»Möchten Sie auch was, Lady?«
»Nein, danke.«
»Wollte nie ausziehen. Béla, meine ich. Hat es uns versprochen, erst letzte Woche. Sie müssen mich tot hinaustragen, meinte er. Und jetzt ist er weg. Gestern war er noch da, aber heute Morgen ganz früh … Hab bei ihm angeklopft, weil ich nichts zu essen hatte, und als alles ruhig blieb, da dachte ich mir, sieh doch mal nach, vielleicht geht es ihm nicht gut, immerhin ist er ein alter Knabe.«
»Und da war die Wohnung leer?«, fragte Anna. »Heute Morgen?«
Ein weiterer Schluck. »Ja.«
»Und gestern war er noch da?« Sebastian hörte, wie Anna kurz zögerte. »Gestern Abend?«
»Gestern Nachmittag. Dann bin ich weg und erst heute Morgen ganz früh zurückgekommen.«
Schritte näherten sich, und Sebastian sah ohne die Hilfe der Augen, wie Anna in die Tür des größten Zimmers trat. »Bastian …«
»Nichts«, sagte er. »Nicht der kleinste Gegenstand in einer Ecke. Nicht
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