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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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fort.

48
    Paris
    W as steht auf dem Schild?«, fragte Raffaele, als Yvonne und die anderen vor der Tür stehen blieben. Gesprochene Worte konnte er verstehen, aber der Sinn von geschriebenen blieb ihm verborgen.
    »Dort steht, dass heute Abend keine Führungen stattfinden«, antwortete die Frau mit dem langen blonden Haar, das sich im leichten Wind bewegte.
    »Also können wir nicht hinab in die Katakomben?«
    Yvonne und die anderen wechselten Blicke. Sie standen vor dem kleinen grünblauen Haus, das Raffaele am Morgen zum ersten Mal gesehen hatte, in der Nähe des Platzes mit dem steinernen Sockel, der den Löwen trug. Zu jenem Zeitpunkt waren sie zu viert gewesen, und inzwischen gehörte ein weiterer Mann zu ihrer Gruppe, der wie Granville, Deveny und Yvonne mit der Stimme von Wind und Meer sprach, aber nicht so geschickt wie sie; er schien sich erst noch daran gewöhnen zu müssen. Sein Name lautete Lechleitner. Es fehlten nur noch zwei, hatte Yvonne gesagt und dabei gelächelt. Raffaele mochte ihr Lächeln, doch er fürchtete sich auch davor.
    »Was machen Sie da?«, ertönte eine andere Stimme. »Sie können nicht hinein.«

    Raffaele drehte sich um und fühlte fast im gleichen Augenblick Yvonnes Hand auf der Schulter. Früher war es eine Geste gewesen, die eine gewisse Zärtlichkeit zum Ausdruck gebracht hatte; jetzt gewann er den Eindruck, dass die Hand ihn zurückhalten wollte.
    Zwei Gendarmen kam aus der Richtung des hell erleuchteten Platzes, und als Raffaele seinen Blick dorthin richtete, wuchs seine Wahrnehmung für die Stadt in Aufruhr. Mit dem Abend hatte sich Paris in ein Lichtermeer verwandelt, und auf den Straßen herrschte dichter, hektischer Verkehr. Immer wieder kam es zu Unfällen, und ein großes Polizeiaufgebot versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen. Mit heulenden Sirenen bahnten sich Streifen- und Krankenwagen einen Weg, und am dunklen Himmel kreisten Helikopter. In anderen Teilen der Stadt standen große Gebäude in Flammen - Raffaele hatte die Feuer auf Bildschirmen in Schaufenstern und an Häuserwänden gesehen. Aus Lautsprechern donnerten Durchsagen - die Bürger von Paris wurden aufgefordert, die Straßen zu räumen und zu Hause zu bleiben, aber kaum jemand schien den Aufrufen zu folgen. Angst breitete sich in der Stadt aus und veranlasste viele Bewohner dazu, das Heil in der Flucht zu suchen. Und je mehr sie sich fürchteten, je mehr sie litten, je mehr von ihnen bei Unfällen verletzt wurden oder starben, in den Feuern verbrannten und andere oder sich selbst in plötzlichem Wahnsinn umbrachten … desto stärker wurden Yvonne und ihre Freunde. Manchmal spürte Raffaele ganz deutlich, wie sich die Kraft in ihnen anstaute, wie sie sich sammelte für … den entscheidenden Moment.
    Die beiden Gendarmen blieben wenige Meter vor ihnen stehen. Raffaele sah sie an, und etwas in ihm versuchte, mit seinen
Blicken ihre Aufmerksamkeit einzufangen. Yvonnes Hand schloss sich etwas fester um seine Schulter.
    »Haben Sie die Durchsagen nicht gehört?«, sagte einer der beiden Polizisten. »Sie sollten besser nach Hause gehen. In die Katakomben können Sie heute Abend nicht.«
    Der zweite Gendarm musterte die Erwachsenen nacheinander, und Raffaele fühlte, wie Argwohn in ihm erwachte, obwohl sich in seinem Gesicht keine Veränderung zeigte.
    Yvonne merkte es ebenfalls, das spürte er durch ihre Hand auf seiner Schulter. »Bitte entschuldigen Sie«, erwiderte sie freundlich, und Raffaele fühlte, wie sie kurz mit sich selbst rang. Ein Laut wie ein leises Seufzen kam von ihren Lippen, und damit teilte sie sich den anderen mit. Wir sollten sie nicht töten, sagte sie. Nicht hier, und nicht jetzt. Der entscheidende Zeitpunkt ist zu nahe; wir dürfen nicht unnötig auf uns aufmerksam machen. »Wir hatten uns ein kleines Stück Normalität erhofft. Vielleicht sind die Katakomben morgen wieder geöffnet. Wir gehen jetzt«, sagte sie, blieb aber ebenso stehen wie Granville, Deveny und Lechleitner.
    Die beiden Polizisten starrten ins Leere und reagierten nicht, als Granville sich umdrehte und kurz an der Kette zog, die die Tür sicherte. Sie brach sofort, und einen Augenblick später stand der Eingang offen.
    »Wir dürfen sie nicht gehen lassen«, sagte Lechleitner und benutzte dabei gewöhnliche Sprache. »Sie haben Verdacht geschöpft.«
    »Einer von ihnen hat dich und den Jungen auf einem Foto gesehen«, wandte sich Deveny an Yvonne.
    »Ja«, sagte sie. Raffaele spürte, wie sich ihre Hand von seiner

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