Äon - Roman
an Schädel, Knochen an Knochen, in Mustern, die der Phantasie von Totengräbern entsprungen waren. Hinweisschilder und Gedenktafeln gaben Auskunft über die Friedhöfe, von denen die sterblichen Überreste all der Menschen stammten, und manchmal richteten sie mahnende Botschaften an die Lebenden. Sie wiesen auf die Vergänglichkeit des Lebens hin, meinten damit aber die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens, nicht mehr als eine Sekunde - oder weniger
- im Meer der Zeit. Yvonne und die anderen waren viel älter, ebenso wie er selbst, das wusste Raffaele, oder ein Teil von ihm. Und wie die Geschöpfe auf der anderen Seite.
Sie brachten mehrere Barrieren hinter sich - einmal schob Granville wie beiläufig mit einer Hand ein schweres Stahlgerüst beiseite, das hinter ihnen von ganz allein in seine ursprüngliche Position zurückkehrte. Die Gänge, Tunnel und Gewölbe wurden noch dunkler, denn hier gab es kaum mehr Lampen. Rohrleitungen und Kabelstränge führten durch die kalte, muffige Finsternis. Manchmal, in der Nähe von vertikalen Schächten, hörte Raffaele das Brummen des Verkehrs in den Straßen von Paris. In diesem Teil der Katakomben gab es keine Schilder mehr, und die Ansammlungen von Knochen und Schädeln wirkten weniger geordnet.
»Dreihundert Kilometer sind die Stollen lang«, sagte Yvonne, als sie eine Höhle mit hoher, gewölbter Decke durchquerten. »Für die Menschen ist das sehr viel. Und etwa hundert weitere Kilometer sind unerforscht. Hierher kommen sie nicht, die Neugierigen, die sich am Tod ergötzen und wohlig schaudern, weil sie sich in ihrem Leben sicher wähnen, das doch so kurz ist. Manchmal frage ich mich, wie die Menschen erreichen konnten, was sie erreicht haben. Nimm diese Stadt, Raffaele. Um ihr Paris zu erweitern, gruben sie sich in den Boden und schufen Steinbrüche unter der Stadt. Tonnenweise Kalkstein holten sie nach oben, über viele Jahre hinweg, bis die Hohlräume so groß wurden, dass ganze Straßenzüge einstürzten. Und was taten sie, um den Boden unter ihren Füßen zu stabilisieren? Sie brachten ihre Toten in die Tiefe; der Tod bildete das Fundament für ihr Leben.«
Raffaele blieb an einem Loch im Boden stehen, bückte sich,
nahm einen Stein und ließ ihn in die Tiefe fallen. Es dauerte eine Weile, bis er fernes Klacken hörte.
»Wir gehen noch tiefer hinab«, sagte Yvonne. »Viel tiefer.«
In manchen Tunneln stapften sie durch kniehohes Wasser, in anderen kletterten sie über Felsen und Schutt hinweg. Granville und Deveny an der Spitze fanden Spalten, die Raffaele in der Dunkelheit übersehen hätte. Steile Treppen mit glitschigen Stufen ging es hinab, vorbei an weiteren Rohrleitungen und Kabelbündeln, dunklen, erstarrten Schlangen an den Tunnelwänden gleich. In einem großen Gewölbe, in das vier Gänge mündeten, blieb Granville kurz stehen und schaute sich um. Raffaele verharrte ebenfalls, und obwohl er in der Dunkelheit weniger sah als die anderen, erschien ihm die Umgebung vertraut.
»Ich erinnere mich …«, sagte er leise.
»Wo?«, fragte Granville.
Raffaele starrte in die Finsternis und sah die Silhouetten von Gestalten, eine von ihnen er selbst, vor zweihundert Jahren.
»Dort«, sagte er und deutete auf eine bestimmte Stelle neben dem Tunnelzugang auf der linken Seite. Granville trat darauf zu und hielt beide Hände an die Wand, die völlig lautlos vor ihm zurückwich. Ein Durchgang entstand, wo zuvor festes Gestein gewesen war. Der hochgewachsene Mann warf Raffaele einen Blick zu, den er mehr spürte als sah, und trat durch die Öffnung, gefolgt von Deveny und dem Deutschen.
»Jetzt kommen wir in unseren Teil der Katakomben«, sagte Yvonne.
Als Raffaele den schmalen Durchgang passiert hatte, blieb er neugierig stehen. In dem Tunnel war es völlig finster, noch dunkler als in dem Gewölbe, aber die nähere Umgebung konnte er recht gut erkennen. Er beobachtete, wie die beiden
Seiten der Wand aufeinander zuwuchsen, begleitet von einem Geräusch, das man nur dann hörte, wenn man nicht mehr als einen Meter entfernt war: Es klang so, als kratzte, weit entfernt, ein Fingernagel ganz langsam über eine Schieferplatte. Nur wenige Sekunden verstrichen, und dann hatte sich die Lücke geschlossen.
Raffaele drehte sich um - nach einigen Metern verschwanden die Stufen der nach unten führenden Treppe in einer Schwärze, die er nicht mehr durchdringen konnte. Die drei Männer waren längst darin verschwunden; das Geräusch ihrer Schritte kam aus der
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