Äon - Roman
erreichte, fast völlig von dem lähmenden Einfluss
befreit. Er sah auch Krysteks Augen, dunkel und tief, über ihnen die Blätter der Baumwipfel, in denen die Stimme des Windes lauter wurde. Und dann fiel er wieder, während er neben Marisa lag, am ganzen Leib zitternd, stürzte durch ein Tosen laut wie ein Orkan und erfuhr aus fremden Erinnerungen, dass sich die Ersten damals der neuen Präsenz angepasst hatten. Sie lernten, Kraft zu schöpfen aus dem Leid der Menschen und sie zur Fortpflanzung zu nutzen: Sie pflanzten ihre Saat in ihnen, ließen sie als Parasiten wachsen und im Wahnsinn der Wirte zur Welt kommen. Darauf gingen all die Geschichten von Besessenheit zurück …
Sebastian dachte daran, was geschehen würde, wenn es den Sechs in Paris wirklich gelang, die vor mehr als viereinhalbtausend Jahren unterbrochene Verbindung zum anderen Teil der Welt wiederherzustellen. Auf der anderen Seite der Membran wartete … was? Zahlreiche Geschöpfe wie die Sechs, vielleicht nicht ganz so mächtig wie die Nephilim, ihre Könige, aber den Menschen zweifellos überlegen: ausgehungerte Heerscharen, die voller Gier über die menschlichen Bewohner der Welt herfallen würden. Es kündigte sich nicht nur eine Katastrophe für die Menschheit an, sondern das kollektive Verderben.
Aus irgendeinem Grund kehrten Sebastians Gedanken zu Raffaele zurück. Er sah ihn noch einmal in der Kirche von Drisiano, ruhig und ernst neben Don Vincenzo, als er die Kranken und Gebrechlichen empfing, und dann etwas später, als ihn der Junge berührte. Raffaele hatte ihn angesehen, und sein Blick …
Sebastian fiel nicht mehr, sondern stieg auf, zusammen mit den Bildern zerstörter Leben, und er fragte sich plötzlich, ob Raffaele die Saat der Sechs wirklich so wahllos verteilt hatte.
Ein Bild löste sich aus den anderen, rauschte nicht vorbei, sondern schwebte Sebastian entgegen. Ohne einen Übergang zu fühlen …
… steht er abseits eines kleinen vertrauten Dorfes, nicht weit von drei Gräbern entfernt. Die untergehende Sonne bringt kühlen Wind, eine Erleichterung nach der Hitze des Spätsommertags. Grillen und Zikaden zirpen; Friede legt sich über das Land. Eine Zeit lang sieht er über die Felsen und den Hang in die Ferne, dorthin, wo ihm ein weiterer Höhenzug den Blick aufs Meer verwehrt. Die Luft, die er an diesem Abend riecht … Sie erinnert ihn an Umarmungen und volle Lippen, aber auch an Schweiß, Blut und Leid. Es sind seltsame Erinnerungen, auf der einen Seite Freude, auf der anderen Schmerz, und er dazwischen. Als er sich umdreht, sieht er eine Gestalt bei den Gräbern. Groß und schlank ist sie, und dunkel; sie verschmilzt fast mit den Schatten der Bäume, und nur eine kurze Bewegung hat sie ihm gezeigt. Neugierig tritt er näher.
Bis auf wenige Schritte ist er an die Gestalt herangekommen, als sie sich umdreht, und er sieht in ein Gesicht, das er gut kennt. Er hat es in Spiegeln gesehen: erst das eines Jungen, der von Köln aufbrach, um ein Heer aus Kindern anzuführen; dann das eines Mannes, der nach dem Scheitern seiner Mission in Kalabrien eine neue Heimat gefunden hat.
»Ich habe dich immer nur gesehen«, sagt er überrascht. »Aber jetzt bin ich selbst hier …«
Nikolaus wirft einen kurzen Blick zu den Gräbern. »Ich bin dort begraben.«
Sebastian tritt noch einen Schritt näher. »Ich habe neben einer Toten gelegen …«
»Du liegst noch immer dort«, sagt Nikolaus. »Und gleichzeitig bist du hier, weil ich dir etwas Wichtiges sagen muss.«
»Ich habe alles beobachtet.« Die Worte springen von Sebastians Lippen;
er kann sie nicht zurückhalten. »Deine Begegnung in Köln mit dem … Gekreuzigten. Den Zug nach Italien. Deine Hoffnungen, Enttäuschungen und Niederlagen. Den Tod, der dir deine Getreuen nahm. Die Sklavenhändler. Und dann dein Leben hier. Ich war dabei, als dein guter Freund Hubertus starb und als du … und deine Söhne …«
Für einen Augenblick wirkt das Gesicht des Mannes vor Sebastian fast gequält. Achthundert Jahre trennen ihn von Nikolaus, und doch steht er hier, mit all seinem Leid, nicht weiter als zwei Meter entfernt, nicht wie ein Fremder, sondern wie ein Bruder. Und es ist ein verzweifelter Bruder, der wiederauferstanden ist, weil er selbst im Tod keine Ruhe fand.
»Hör mir zu, Sebastian«, sagt er, und seine Stimme klingt, als käme sie aus einer Höhle. »Ich weiß, was die Sechs vorhaben. Du musst …«
Die Lippen des Mannes bewegen sich, aber die Stimme weicht zurück
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