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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Schulter löste, und er beobachtete, wie sie zu den Polizisten
ging. Für unbeteiligte Beobachter musste es den Anschein haben, dass Yvonne kurz mit den beiden Beamten sprach, und genau diesen Eindruck wollte sie erwecken. In Wirklichkeit ging es ihr darum, mit kurzen Berührungen einen direkten Kontakt herzustellen. Raffaele sah, wie sich in den Augen der Gendarmen etwas veränderte - ihr Blick ging an Yvonne und den anderen vorbei.
    »Kommt«, sagte Granville und trat durch den offenen Zugang. Lechleitner folgte ihm sofort, dann auch Deveny. Yvonne kehrte zurück und nahm Raffaeles Hand.
    »Jetzt zeige ich dir, was von sieben Millionen Leben übrig ist«, sagte sie und führte ihn durch die Tür, die hinter ihnen zufiel.
     
    Eine lange spiralförmige Treppe führte in die dunkle Tiefe. Raffaele folgte den drei Männern, und Yvonne bildete den Abschluss, was ihm für einige wenige Sekunden das Gefühl gab, dass der Rückweg für ihn abgeschnitten war. Das verwirrte Raffaele. Es fiel ihm immer schwerer, sich selbst und seine widerstreitenden Empfindungen zu verstehen, die seltsamen Gedanken, die ihm manchmal durch den Kopf gingen.
    Zuerst blieb alles finster, aber dann vertrieben weiß und gelb leuchtende Lampen einen Teil der Dunkelheit. Granville hatte das Licht eingeschaltet, und Raffaele wusste, dass er damit Rücksicht auf ihn nahm - er konnte in der Finsternis nicht so gut sehen wie die Erwachsenen.
    »Erinnerst du dich?«, fragte Yvonne und deutete ins erste Gewölbe.
    Noch vor einigen Stunden hatte er sich besser an Paris erinnert, an ihren Aufenthalt in dieser Stadt vor zweihundert Jahren,
aber jene Bilder verloren allmählich an Kontrast und Schärfe. Der Teil von Raffaele, der sich daran erinnerte - an den bleigrauen Himmel im Jahr ohne Sommer, an das Elend in den Gassen, auch an den Weg durch die Katakomben, auf der Suche nach der richtigen Stelle -, schien in ihm zurückzuweichen. Einerseits freute und erleichterte es den Jungen, dessen Gedanken um Hilfe gerufen hatten, weil er im eigenen Körper zum Gefangenen geworden war, denn es gab ihm ein gewisses Maß an Freiheit zurück. Andererseits wusste er auch, dass ihn das Fremde nicht ganz verlassen durfte, denn sonst wurde es an anderer Stelle zu stark, was den Plan gefährdet hätte. Welchen Plan?, dachte er verwundert und zögerte kurz auf einer der letzten Treppenstufen. Denk nicht daran, flüsterte etwas anderes in ihm, und nur eine Sekunde später fühlte er wieder Yvonnes Hand auf der Schulter.
    »An was sollst du nicht denken?«, fragte sie, und ihre grünblauen Augen schienen in der Düsternis größer geworden zu sein.
    »Ich weiß nicht«, antwortete Raffaele und fügte ehrlich hinzu: »Es ist alles so verwirrend.«
    Sie sah ihn noch etwas länger an, wie forschend und auf der Suche nach etwas, und nickte dann. »Bald wirst du verstehen«, versprach sie und deutete erneut nach vorn.
    Die Wände des Gewölbes vor ihnen, von gelbem Lampenschein der Finsternis entrissen, bestanden aus geschichteten Knochen und Totenköpfen, denen erstaunlicherweise alle die Unterkiefer fehlten. Granville, der Deutsche und Deveny schenkten ihnen keine Beachtung, eilten daran vorbei und verschwanden in einem Tunnel.
    »Erinnerst du dich?«, fragte Yvonne erneut.

    Raffaele ging langsam an den Wänden aus Knochen entlang und ließ den Blick dabei über die leeren Augenhöhlen streichen. »Ja«, sagte er leise, obwohl die Bilder verschwommen blieben und nur wenige Einzelheiten verrieten. »Alte Steinbrüche. Überfüllte Friedhöfe. Seuchen und Hungersnöte …«
    »Als wir damals hier waren, vor zweihundert Jahren, hatte es gerade erst begonnen.« Yvonne ergriff erneut seine Hand und führte ihn zum Tunnel. »Die Menschen brachten ihre Toten hierher, weil so viele von ihnen starben, dass auf den Friedhöfen kein Platz mehr war. Die Totengräber nahmen die Knochen und schichteten sie so auf, dass sich Muster daraus ergaben, siehst du? Inzwischen liegen hier unten die Reste von etwa sieben Millionen Menschen.«
    Raffaele sah zu ihr hoch, als sie nicht weitersprach, und begegnete ihrem Blick.
    »Gibt es eine bessere Umgebung für unsere Rückkehr?«, fragte sie.
    Diese Worte hallten in ihm nach, als Raffaele durch eine Welt wanderte, die zum größten Teil aus Dunkelheit oder Düsternis bestand. Und dort, wo sie Substanz gewann, war es die Substanz von vergangenem Leben, seiner Individualität beraubt. Namenlos und anonym lagen die Toten auf- und nebeneinander, Schädel

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