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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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jüngere Männer und eine Frau in mittleren Jahren, weichen instinktiv zurück; vielleicht fürchten sie, dass der Zitternde eine ansteckende Krankheit hat. Sebastian hingegen tritt auf ihn zu und streckt die Hand aus, aber es ist die Hand einer Frau, die dem Mann über die Wange streicht. Sein Zittern lässt ein wenig nach, und seltsame Geräusche kommen von seinen Lippen, Geräusche, die für die anderen keinen Sinn ergeben, und dann holt er eine kleine Pistole hervor und beginnt zu schießen, doch nicht auf Sebastian, nicht auf die Frau, der die Hand gehört, die ihn berührt hat. Zum Schluss, als die anderen auf dem Boden liegen, steckt er sich den Lauf der Pistole in den Mund, sieht Sebastian an und drückt ab …
     
    Marisa, die junge Frau, war eine Sammlerin gewesen, nicht von menschlichen Leben, sondern der darin gewachsenen Saat, die die Betreffenden in Drisiano empfangen oder durch den Kontakt mit Kontaminierten aufgenommen hatten. Keine Nephilim, begriff Sebastian, während er noch durch den Strudel aus Bildern fiel, aber ein nützliches Werkzeug. In sechs
Personen reiften jene Kreaturen heran, die vor tausendachthundert Jahren ihren Kerker verlassen hatten, aber es war nicht von vorneherein klar gewesen, welche Kontaminierten zu den Sechs werden sollten. Es war eine Frage der … Evolution, von günstigen Umständen und geeigneten Situationen. Die anderen Keime gaben Kraft ab, die ihnen für ihr eigenes Wachstum fehlte, und viele von ihnen starben zusammen mit ihren zum Wahnsinn getriebenen Wirten. In einigen Fällen jedoch, wie bei Marisa, erreichten sie eine Art Zwischenstadium, auf halbem Weg zwischen Mensch und Nephilim, und der Ruf der Sechs machte sie zu Sammlern, die ihnen zusätzliche Kraft brachten. Durch Marisas Tod hatte sich eine Art Batterie entladen, und ihre Energie stellte eine enorme Gefahr für Sebastian dar, denn sie sollte es dem Nephilim in ihm ermöglichen, den letzten Widerstand zu brechen und endgültig die Kontrolle zu übernehmen.
    Schmerz und Leid in allen Formen: Wunden und Verletzungen, Krankheiten, Entbehrungen, Kummer und Trauer, erlittene Verluste, gebrochene Herzen und blutende Seelen, Zynismus und Selbsthass … Diese Schatten der menschlichen Existenz wurden zu Licht für die Nephilim. Tausende von Strudeln fegten mit der Gewalt von Wirbelwinden über die Erde, ungesehen von den Augen der Menschen und ungehört von ihren Ohren. Sie bildeten sich überall dort, wo seelische und körperliche Qualen wucherten, und solche Orte gab es viele, geschaffen von der Saat, die Raffaele in Drisiano ausgebracht hatte. Sebastian beobachtete sie für einige wenige Sekunden: Selbst im Innern eines solchen Strudels sah er, wie sie Windhosen gleich dahinzogen, ausgehend von Unfällen, Bränden, lokalen Katastrophen. Überall dort, wo Menschen
litten und starben, stiegen kleine grauweiße Wolken auf und strebten einem gemeinsamen Ziel entgegen: Paris.
    Evolution, dachte Sebastian in den endlosen Sekunden des Fallens. Vor mehr als achthundert Jahren, nach dem kläglichen Ende des Kinderkreuzzugs, hatten sich die Sechs in Nikolaus’ Blutlinie eingenistet, um beim nächsten Herzschlag der Welt bereit zu sein. Und Raffaele, ein ferner Nachfahr des Nikolaus, der irgendwo in Kalabrien begraben lag, vielleicht gar nicht weit von Drisiano entfernt, hatte die Samenkörner wie wahllos unter den Menschen verstreut, auf dass aus den stärksten von ihnen wieder die Nephilim wurden, Könige und Feldherrn der anderen Welt, deren Truppen einst von Gilgamesch und seinen Getreuen besiegt worden waren. In Menschen gepflanzt, gewachsen und gereift …
    Andere Bilder strömten ihm entgegen, keine Erinnerungsfragmente gesprengter, zerfetzter Seelen, sondern Eindrücke aus der einst größeren Welt, so wie sie vor der Trennung gewesen war - Bilder aus dem Gedächtnis des Nephilim, der in ihm wuchs und sich bemühte, Reife zu erlangen und sich seiner ganz zu bemächtigen. O ja, sie waren vor den Menschen da gewesen, Geschöpfe wie die Sechs, und ja, manche von ihnen waren Verbindungen mit den Bewohnern der höheren Sphäre eingegangen, dem dritten Teil der größeren Welt, Engeln oder Aliens, so wie auch einige Menschen, mit dem Ergebnis, dass Gilgamesch und die anderen geboren worden waren.
    Evolution …
    Sebastian spürte plötzlich, dass diesem Begriff noch eine andere Bedeutung zukam, die über die gegenwärtigen Vorgänge hinausging. In einem Moment flüchtiger Klarheit sah er, wie Anna die Straße

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