Äon - Roman
alte Angewohnheit. »Ich habe gerade von Alexanders Ermordung erfahren.«
»Können wir offen miteinander reden?«
Sebastian sah zur Seite, begegnete Don Vincenzos Blick und
nickte ihm beruhigend zu. »Ich bin in Begleitung eines Priesters, aber er versteht kein Deutsch.«
»Eines Priesters? Ich dachte, du hasst die Schwarzkittel wie die Pest.«
Sebastian zögerte, aber Wolfgang gab ihm gar keine Gelegenheit zu einem Kommentar. »Ich habe Torensen tot in seiner Wohnung gefunden«, sagte er aufgeregt. »Nur wenige Minuten nach der Tat. Verdammt, etwas eher, und ich wäre der Mörderin über den Weg gelaufen. Dann hätte es vielleicht auch mich erwischt.«
»Der Mörderin? Woher weißt du …«
»Ich habe unten auf dem Parkplatz eine Frau gesehen, und der BND-Fritze zeigte mir ein Foto.«
»Welcher BND-Fritze?«, fragte Sebastian verwundert.
»Der Bundesnachrichtendienst hat sich in die Sache eingeschaltet, Bastian«, sagte Kessler. »Du weißt schon. Die Fälle mit starken selbstzerstörerischen Elementen. Die Anschläge und so weiter. Die Sache ist viel größer, als wir bisher dachten. Sie beschränkt sich nicht auf Hamburg, nicht einmal auf Deutschland. Viele Länder der westlichen Welt sind betroffen, und die Geheimdienste arbeiten zusammen. Verdammt, hörst du mir zu, Bastian?«
»Ja«, sagte Sebastian benommen. »Ja, ich höre dir zu.« Sie verließen gerade Reggio Calabria, und es war nicht mehr weit bis zur Autostrada, die sie nach Norden bringen würde, in Richtung Villa San Giovanni. Die Abzweigung nach Drisiano kam natürlich ein ganzes Stück vorher.
»Bevor die Polizei und mit ihr der BND-Typ namens Singerer am Tatort eintrafen, habe ich einen USB-Stick an mich genommen«, fuhr Wolfgang fort. »Torensens Computer war
zertrümmert, als wollte jemand Daten vernichten, aber der USB-Stick blieb unversehrt. Er enthielt jede Menge Informationen.«
»Wenn die Bullen davon erfahren …«
Wolfgang Kessler ging nicht darauf ein. »Ich habe mir erst einen Teil der Daten angesehen, und daraus geht hervor: Alle Betroffenen waren im Lauf des letzten Jahres in Kalabrien, in Drisiano. Das ist das gemeinsame Element. Sie haben den Jungen besucht, Bastian. Und später, nach der Rückkehr in ihre Heimat, sind sie aus irgendeinem Grund durchgedreht.«
Sebastian hörte zu, während Don Vincenzo den Punto auf die A3 lenkte.
»Aber nicht alle. Einige von ihnen haben damit begonnen, andere Leute umzubringen, die wie sie in Drisiano gewesen sind. Der BND bezeichnet sie als › Schlüsselpersonen ‹ . Bist du noch da, Bastian?«
»Ja.«
»Ich höre hier dauernd ein verdammtes Knacken und Rauschen. Ich schicke später komprimierte Dateien an deine E-Mail-Adresse. In spätestens einer Stunde. Halte dein Notebook bereit, klar? Mann, das ist wirklich eine dicke Sache, verdammt! Irgendwie ist dein Wunderheiler darin verstrickt. Kannst du eine Liste der Personen besorgen, die er geheilt hat oder mit denen er Kontakt hatte?«
»Ich weiß nicht …« Es fiel Sebastian schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Don Vincenzo fuhr auf der rechten Spur, und andere Wagen sausten links mit hoher Geschwindigkeit vorbei. Sebastian hörte die Geräusche nur als dumpfes Brummen, als wären sie weit entfernt.
»Namenslisten, Sebastian«, betonte Wolfgang noch einmal.
»Ich brauche eine möglichst vollständige Liste der Personen, die bei dem Jungen waren. Dann ließe sich feststellen, ob alle von der so genannten Kontamination betroffen sind.«
Kontamination, dachte Sebastian.
»Ich … verstehe«, brachte er hervor. »Mal sehen, was ich machen kann.«
Er unterbrach die Verbindung, und nach kurzem Zögern schaltete er das Handy ganz aus.
»Noch mehr schlechte Nachrichten, Signor Vogler?«, fragte Don Vincenzo nach einer Weile.
Sebastian saß still auf dem Beifahrersitz und spürte, wie alles in seiner Umgebung sich von ihm entfernte - die ersten Symptome einer drohenden Ohnmacht. Er versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen, den rasenden Puls zu beruhigen und seine Gedanken und Gefühle zu ordnen. In nur einem Tag war ziemlich viel auf ihn eingestürmt: ein Todesurteil in Form eines Hirntumors; die Heilung durch Raffaele; die Freude über ein neues Leben; Torensens Ermordung … Und jetzt der Hinweis, dass Monika Derbach, die ihre beiden Kinder und sich selbst auf schreckliche Weise umgebracht hatte, und all die anderen Wahnsinnigen bei dem Jungen gewesen waren.
»Signor Vogler? Geht es Ihnen nicht gut?«
Er hob beide
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