Äon - Roman
Hände zu den Schläfen und rieb sie so heftig, dass sie brannten, kniff dabei die Augen zu - und riss sie wieder auf, als er plötzlich das andere Gesicht sah, das ihn in der vergangenen Nacht aus dem Spiegel angestarrt hatte.
Sebastian blinzelte mehrmals und sah, dass Don Vincenzo in einer Parkbucht angehalten hatte. Der Priester musterte ihn besorgt.
»Don Vincenzo … Sie haben mir sehr geholfen. Gestern
Abend mit Raffaele. Und heute Morgen, als Sie mich abholten und zur Klinik brachten … Darf ich Sie noch einmal um Hilfe bitten?«
»Natürlich. Was immer in meiner Macht steht.«
Sebastian sah ihm in die Augen und erkannte dort die Aufrichtigkeit des Angebots. Trotzdem fragte er sich, ob es sinnvoll war, dem Priester die ganze Wahrheit zu sagen, ihm von den schrecklichen Verbrechen in Deutschland und der Verbindung zu Raffaele zu erzählen. Er liebte den Jungen, der wie eine Botschaft Gottes für ihn war, wie ein himmlisches Zeichen, das ihm den rechten Weg wies, Zweifel und Skepsis hinwegfegte.
»Es geht um eine sehr, sehr wichtige Angelegenheit, Don Vincenzo …«
»Ja.« Der Priester sah ihn weiterhin an und wartete geduldig.
»Sie wissen, dass ich Journalist bin, aber dies hat nichts mit irgendeiner Story für eine Zeitung oder dergleichen zu tun. Es geht vielmehr um die Wahrheit. Verstehen Sie?«
»Wahrheit ist die Pflicht eines jeden Christen«, sagte Don Vincenzo, und bei ihm klang es ehrlich.
»Schreckliche Dinge sind geschehen. Blut ist geflossen. Leben wurden ausgelöscht.«
»Ihr Freund …«
»Er ist nur ein Opfer von vielen«, sagte Sebastian. »Um die Mörder zu finden und noch mehr Blutvergießen zu verhindern, brauchen wir die Namen der Personen, die im Lauf des letzten Jahrs bei Raffaele gewesen sind, Don Vincenzo. Können Sie mir eine Namensliste beschaffen?«
Eine andere Art von Sorge erschien auf Don Vincenzos Gesicht.
»Die schrecklichen Dinge … Gibt es eine Verbindung zu Raffaele?«
»Das wissen wir noch nicht«, log Sebastian. »Können Sie mir eine Liste der Namen geben? Ich versichere Ihnen, dass eine solche Liste in keiner Zeitung erscheinen wird.«
Der Priester nickte langsam. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Sie machten Zwischenstation beim Hotel, wo Sebastian seinen Mietwagen nahm und Don Vincenzos Punto folgte. Als sie sich Drisiano näherten, sah Sebastian, dass sich dort etwas verändert hatte. Auf dem Parkplatz unterhalb des Dorfes standen nicht nur viele Pkws und Busse von Pilgern, sondern auch eine Limousine mit Vatikan-Kennzeichen und mehrere Einsatzfahrzeuge der Carabinieri. Aufruhr herrschte bei der zum Dorf führenden Treppe. Dutzende von Frauen und Männern standen dort, gestikulierten und sprachen alle gleichzeitig. Ihre Entrüstung galt den Uniformierten, die den Weg zur Treppe versperrten.
Sebastian parkte neben Don Vincenzos Punto und entschied, das Notebook im Wagen zu lassen. Er stieg aus, und zusammen mit dem Priester näherte er sich der Menge.
»Es hat keinen Zweck, dass Sie ins Dorf gehen«, wandte sich einer der Carabinieri an die Leute. »Sie können nicht zu dem Jungen. Er ist sehr krank.«
»Krank?«, wiederholte Don Vincenzo erschrocken und bahnte sich mit den Ellenbogen einen Weg durch das Gedränge. »Was ist mit Raffaele passiert?«, fragte er, als er die Uniformierten erreichte. »Was ist mit dem Jungen passiert, Maresciallo Girardi?«
Der ranghöchste Carabiniere, ein mittelgroßer Mann mit schwarzem Schnauzer, bedeutete seinen Leuten, den Priester passieren zu lassen. Don Vincenzo zeigte auf Sebastian und meinte, dass er zu ihm gehörte. »Man hat uns gesagt, dass er heute Morgen krank geworden ist. Und wir sind angewiesen, die Pilger von ihm fernzuhalten.« Der Carabiniere nickte in Richtung Limousine. »Vor einer Stunde sind der Bischof und einige andere Leute aus dem Vatikan und aus Rom eingetroffen.«
»Bischof Munari?«, fragte Don Vincenzo, während er bereits, erstaunlich flink für sein Alter, zur Treppe stapfte.
»Ja«, bestätigte Maresciallo Girardi. »Sie sind alle dort oben.« Er drehte sich wieder zu den aufgebrachten Leuten um. »Immer mit der Ruhe. Nehmen Sie doch Vernunft an …«
Sebastian fragte sich, wie viele der Männer und Frauen in der Hoffnung auf Heilung hierhergekommen waren, als er dem Priester über die Treppe folgte. Don Vincenzo hatte es sehr eilig, und Sebastian geriet fast außer Atem, als er versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Als sie das Dorf erreichten, kam ihnen eine in Schwarz
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