Äon - Roman
nichts von dem seltsamen Traum zu erzählen. »Bisher ganz gut.«
»Na bitte. Du weißt, was los ist. Die anderen wussten es nicht. Das dürfte ein Vorteil sein. Außerdem hast du Anna dabei. Sie ist Ärztin und kann dir helfen. Melde dich morgen, wenn du in Riga ankommst.«
»Ja.«
»Kopf hoch, Kumpel. Bis morgen.« Wolfgang Kessler legte auf.
Sebastian ließ den Hörer langsamer auf die Gabel sinken und starrte noch einige Sekunden stumm aufs Telefon hinab.
»Ich habe ein wenig gegoogelt«, sagte Anna. »Es gibt eine ganze Menge über die Kinderkreuzzüge und den Jungen namens Nikolaus.« Sie deutete auf den Monitor.
Sebastian ging zu ihr.
»Nikolaus hat wirklich gelebt«, sagte Anna. »Im April 1212 predigte er in Köln vor dem Altar der Heiligen Drei Könige. Er war der Sohn eines Adligen, acht oder neun Jahre alt, soll ein beachtliches Rednertalent und eine erstaunliche Suggestivkraft gehabt haben.« Sie scrollte den Text über den Monitor. »Innerhalb weniger Tage gelang es Nikolaus, Tausende von Kindern um sich zu scharen, die bereit waren, mit ihm ins Heilige Land zu ziehen. Angeblich war er von Jesus höchstpersönlich beauftragt worden, Jerusalem von den Sarazenen zu befreien. Er versprach jenen, die unter seiner Führung marschieren wollten, dass sich das Mittelmeer vor ihnen teilen würde, so wie sich einst das Meer vor den Israeliten teilte, als sie Ägypten verließen.«
»Genau wie in meinem Traum«, murmelte Sebastian.
»Mitte Mai machten sich etwa zwanzigtausend Menschen von Köln aus auf den Weg ins Heilige Land«, fuhr Anna fort. »Vor allem Kinder im Alter von sechs bis vierzehn Jahren, aber auch Jugendliche, Erwachsene und sogar Greise. Unter der Führung von Nikolaus zog dieses Heer nach Süden und überquerte die Alpen in mehreren großen Gruppen.«
»Was ist mit dem anderen Jungen, Stephan?«
»Stephan stammte aus dem Dorf Cloyes, nicht weit von Fréteval entfernt, wo Richard Löwenherz König Philipp von Frankreich besiegte. Er war älter als Nikolaus, zwölf oder fünfzehn,
die Chronisten sind sich da nicht ganz einig. Er stammte aus einfachen Verhältnissen und arbeitete zu jener Zeit als Hirte. Mit seinen Predigten begann er in Vendôme, und offenbar teilte er Nikolaus’ rhetorisches Talent. Auch er scharte innerhalb kurzer Zeit viele Anhänger um sich und versprach ihnen ebenfalls, das Mittelmeer würde sich vor ihnen teilen. Nachdem er in Paris vom König empfangen wurde, kehrte er nach Vendôme zurück. Ende Juni 1212 marschierte er mit dreißigtausend Kindern nach Marseille, wo das Wunder mit dem Meer geschehen sollte.«
Sebastian fühlte Schmerz, und erstaunlicherweise war er nicht sicher, ob es sein eigener war. Für ein oder zwei Sekunden kehrten die intensiven Wahrnehmungen zurück, und sein Herzschlag hallte als lautes Donnern durchs Zimmer. »Das Wunder blieb aus, in Genua ebenso wie in Marseille. Niemand von ihnen erreichte das Ziel.«
»Zumindest nicht auf die Weise, wie sie es sich erhofften«, bestätigte Anna. »Viele starben an den Folgen von Entbehrungen während des langen Marsches. Andere fielen Krankheiten zum Opfer. Nur siebentausend Kinder erreichten unter der Führung von Nikolaus am 25. August die Mittelmeerküste bei Genua, und eine andere Gruppe gelangte nach Ancona.«
»Das Meer teilte sich nicht vor ihnen«, sagte Sebastian und konnte es sehen, wenn er die Augen schloss: die Enttäuschung in den ausgezehrten Gesichtern.
»Nein. Viele von ihnen versuchten, in die Heimat zurückzukehren, aber die Lombarden hielten sie als billige Arbeitskräfte zurück. Einige tausend Kinder folgten Nikolaus, der noch nicht die Hoffnung aufgab, und schließlich erreichten sie Pisa. Dort gingen einige hundert Kinder an Bord von zwei
Schiffen, die nach Akkon segelten. Dort angekommen sollen sie kurz nach ihrer Landung von Bogenschützen aus dem Heer des Sultans Al Adil aufgerieben worden sein.«
»Aber Nikolaus war nicht unter ihnen«, sagte Sebastian.
Anna sah überrascht zu ihm auf. »Das stimmt. Hast du auch davon geträumt?«
»Nein. Ich … erinnere mich«, erwiderte er. Aber wie konnte er sich an etwas erinnern, von dem er noch nie gehört hatte?
»Nikolaus ging nicht an Bord der pisanischen Schiffe, sondern zog mit tausendzweihundert Getreuen weiter durch Italien, doch unterwegs schmolz die Schar immer mehr zusammen. Nur kleinere Gruppen von Kindern erreichten Ende September Brindisi, und dort nahm der Kreuzzug ein Ende mit Schrecken. Ein Sklavenhändler,
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