Äon - Roman
angeblich ein Norweger namens Friso, verkaufte die Mädchen an Bordelle, und die Knaben landeten auf den Sklavenmärkten an der nordafrikanischen Küste.«
»Nikolaus war nicht unter ihnen«, sagte Sebastian.
»Nein. Man weiß nicht, was aus ihm geworden ist.«
»All die Kinder aus Frankreich und Deutschland … Sie wurden verraten.«
»Verraten? Von wem?«
»Von Papst Innozenz III., der ihnen die Unterstützung der Kirche versagte. Der die Kirche verriet , indem er mit den Sarazenen gemeinsame Sache machte. Er verschwor sich mit ihnen gegen die Kinderkreuzzüge. Stephan und Nikolaus durften ihr Ziel nicht erreichen.«
»Davon steht hier nichts.« Tasten klickten unter Annas Fingern. »Auch nicht in den anderen Dokumenten, die ich gefunden habe.«
»Ich weiß es«, sagte Sebastian. »Anna …« Er zog einen Stuhl heran, setzte sich und ergriff ihre Hand.
Sie hob die Brauen. »Willst du mir einen Heiratsantrag machen?«, fragte sie und lächelte.
Sebastian erwiderte das Lächeln kurz. »Wir sind noch verheiratet, zumindest auf dem Papier … Schreckliche Dinge sind mit den Personen geschehen, die bei Raffaele waren. Er hat sie verändert, und dadurch sind sie wahnsinnig geworden. Vielleicht steht so etwas auch mir bevor. Wolfgang hat die Spur von Simon Krystek gefunden, an dessen Schlafzimmerdecke › Nikolaus ‹ geschrieben stand. Durch ihn können wir vielleicht mehr erfahren und herausfinden, was dies alles bedeutet . Krystek ist nach Lettland unterwegs, nach Riga, und Wolfgang möchte, dass ich mich an seine Fersen hefte. Mein Flug geht morgen früh.«
Anna sah ihm in die Augen. »Du hast bei dem Telefongespräch meinen Namen genannt.«
»Anna … Kannst du mitkommen? Ich weiß, es ist alles ziemlich überstürzt, und du hast deine Pflichten im Krankenhaus und so, aber ich würde mich sehr freuen, dich bei mir zu haben. Wir könnten über … uns reden. Heute Nachmittag im Bett … Ich meine, die Verbindung zwischen uns ist noch ganz lebendig, und vielleicht …« Es stimmte alles, was er sagte, und in ihm warteten noch mehr Worte darauf, ausgesprochen zu werden. Aber etwas anderes stand im Vordergrund. »Verdammt, Anna, ich habe Angst. Vor dem, was mit mir passieren könnte. Ich möchte nicht allein sein. Bitte, komm mit.«
Sie trat ganz dicht an ihn heran, hob die Hand und strich ihm mit der Spitze des Zeigefingers über die Lippen. Der Glanz in ihren Augen veränderte sich, und für einen Moment
glaubte Sebastian, durch ihre Pupillen ins Gehirn dahinter blicken, ihre Gedanken und Gefühle wahrnehmen zu können. Er sah … Hoffnung.
»Ich habe noch Urlaub gut«, sagte sie und ging zum Telefon. »Falls es trotzdem Schwierigkeiten geben sollte, weise ich auf eine dringende Familienangelegenheit hin. Es ist nicht einmal gelogen.«
»Aber bevor wir nach Riga fliegen … Lass uns nach Drisiano fahren. Ich möchte den Jungen noch einmal sehen.«
»Dann schlage ich vor, dass du dich anziehst«, sagte Anna. »Oder willst du so zu Raffaele?«
Sebastian stellte fest, dass er noch immer nackt war. Rasch sammelte er seine verstreut herumliegenden Sachen ein und streifte sie über.
»Was ist denn hier los?«, fragte Anna, als sie Drisiano erreichten. Es war fast zehn Uhr. Sterne leuchteten am wolkenlosen Himmel, und das Licht des Halbmonds spiegelte sich auf dem Meer. Auf dem Parkplatz unterhalb des kleinen Ortes standen mehrere Einsatzfahrzeuge der Carabinieri und ein Krankenwagen, und überall wimmelte es von Leuten, die meisten von ihnen Pilger. Viele von ihnen wirkten ratlos, andere bestürzt.
Sebastian parkte und stellte den Motor ab. »Als ich Drisiano heute Morgen verlassen habe, stand Raffaele unter Quarantäne. Irgendwelche Typen aus dem Vatikan waren da, und jede Menge Carabinieri, so wie jetzt. Sie wollten nicht einmal Don Vincenzo zu dem Jungen lassen.«
Als sie ausstiegen, bemerkte Sebastian die alte, elegante Italienerin, mit der er gesprochen und in der Kirche gesessen hatte.
Sie war in Tränen aufgelöst, und mehrere andere, nur wenig jüngere Frauen versuchten, sie zu trösten.
»Signora?« Sebastian trat näher »Erinnern Sie sich an mich?«
»Oh, Signor Tedesco …«, brachte die Alte schluchzend hervor.
»Was ist geschehen?«
»Der arme Don Vincenzo! Der arme, arme Don Vincenzo! Er ist tot, Signor Tedesco!«
»Was?« Für ein oder zwei Sekunden konnte Sebastian keinen klaren Gedanken fassen. Dann schien sich eine Faust aus Eis um sein Herz zu schließen. »Raffaele! Was ist
Weitere Kostenlose Bücher