Äon - Roman
wohnt in Jugla bei Riga … Es folgte eine Adresse, die schwer zu entziffern war, und dann wurde die Schrift immer krakeliger. Ich habe zu lange gewartet und wollte blind sein. Wie dumm Hoffnung machen kann. Ich … Es folgte ein Durcheinander, in dem Sebastian keine Bedeutung erkennen konnte, und die letzten Worte unmittelbar darunter lauteten: Gott steh mir bei!
»Bei den Begegnungen mit ihm …«, sagte Sebastian leise und erinnerte sich. »Ich habe etwas in ihm gespürt, einen fernen Schmerz. Aber ich wusste nicht …«
Als er aufsah, hatte Schwester Luisa an dem Tisch Platz genommen, den Kopf gesenkt und die Hände gefaltet. Sie betete, erbat göttlichen Segen für den toten Don Vincenzo, Raffaele und die ganze Welt.
»Komm«, sagte Anna und schlang den Arm um ihn. »Hier können wir nichts mehr erreichen.«
Sie führte ihn durchs Dorf und die Treppe hinunter, und Sebastian fasste erst wieder einen klaren Gedanken, als er im Wagen saß, auf dem Beifahrersitz; Anna hatte am Steuer Platz genommen. Er starrte auf den Zettel und merkte, dass seine Hände zitterten.
»Was geht hier vor?«, fragte er mit rauer Stimme.
Anna sah ihn stumm an.
»Bevor er überschnappt und sich umbringt, schreibt Don Vincenzo eine Nachricht für mich und nennt mir die Adresse eines Freunds in Riga«, sagte Sebastian langsam. »Riga, Lettland.
Aber er wusste doch gar nicht, dass wir morgen dorthin fliegen.« Sebastian sah von dem Zettel auf und begegnete Annas Blick. »Er kann es gar nicht gewusst haben.«
Anna ließ den Motor an. »Vielleicht ein Zufall.«
Sebastian schaute in die Nacht. »Nein«, erwiderte er leise. »Es steckt mehr dahinter, da bin ich sicher.«
21
Rom
G lauben Sie an Gott, Ignazio?«, fragte der Papst.
»Heiliger Vater!«, brachte der päpstliche Berater hervor. »Natürlich glaube ich an Gott. Sonst wäre ich nicht hier.«
Der Papst blieb an einem der langen Bücherschränke stehen. Sie waren allein. Diesen Teil der Vatikanischen Bibliothek konnten weltliche und kirchliche Gelehrte nur nach Vereinbarung betreten. »Sie sind kein Priester, Ignazio. Es steht Ihnen frei, an die Dinge zu glauben, die Sie für richtig halten.«
»Heiliger Vater!«
Der Papst lächelte. »Sehen Sie sich diese Bücher an, Ignazio. Manche von ihnen sind tausend und mehr Jahre alt. Einige der hier lagernden Schriftrollen stammen aus der Zeit der Evangelisten. Ihre Autoren haben über das geschrieben, was sie für die Wahrheit hielten, und nur selten waren sie dabei einer Meinung. Selbst in den Evangelien gibt es Widersprüche.«
»Weil das Wissen damals mündlich weitergegeben wurde«, sagte Ignazio Giorgesi sofort. Er arbeitete seit fast zehn Jahren als päpstlicher Berater, zuerst für Johannes Paul II. und jetzt für den Papst mit dem unüberhörbaren deutschen Akzent. Inzwischen genoss er dessen besonderes Vertrauen. »Dabei
geschah es, dass bestimmte Dinge nicht korrekt überliefert wurden.«
»Aber wer entscheidet, was korrekt ist und was nicht?«
»Führen Sie einen dialektischen Dialog mit mir, Heiliger Vater?«
»Nun, manchmal ist es nützlich, in Gegensätzen zu denken, um die Dinge dazwischen zu erkennen. Zwischen Schwarz und Weiß erstreckt sich ein Universum von Grautönen, das wissen Sie ebenso gut wie ich.« Der Papst ging langsam weiter, den Blick auf die Buchrücken gerichtet. »Die Menschen sind immer auf der Suche nach Erkenntnis und Wahrheit gewesen«, fuhr er fort, und fast klang es so, als spräche er mit sich selbst. »Diese Bibliothek ist der Beweis dafür. Aber es kann sehr schwer sein, die Wahrheit zu finden, und nie gibt es Gewissheit . Abgesehen vielleicht von der Mathematik.«
»Nicht einmal dort«, sagte Ignazio und fragte sich, worauf der Papst hinauswollte. »Mathematische Gewissheit findet spätestens in der Quantenmechanik ihr Ende.«
Der Papst blieb erneut stehen, und als er seinen Berater diesmal ansah, wirkte er plötzlich sehr ernst. »Ein interessanter Hinweis, Ignazio. Die Quantenmechanik beschert uns noch mehr Ungewissheit. Je tiefer wir nach Wahrheit suchen, desto mehr Unsicherheit finden wir. Weil Wahrheit und Lüge Weiß und Schwarz sind, getrennt von einer grauen Unendlichkeit. Und um bei dem Beispiel zu bleiben, Ignazio: Vielleicht gibt es auch zwischen Wahrheit und Lüge eine Verbindung, die sich mit der quantenmechanischen Verschränkung vergleichen lässt. Vielleicht erfordert das eine das andere. Keine Wahrheit ohne Lüge. Und nichts Gutes ohne das Böse.«
»Gott und
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