Äon - Roman
mit Raffaele?«
Als die alte Signora nicht sofort antwortete, hätte er sie fast an den Schultern gepackt und geschüttelt.
»Sie haben den Jungen fortgebracht, Signor Tedesco«, schluchzte die Alte, und weitere Tränen rollten ihr über die Wangen.
Die Menge geriet in Bewegung, als Sanitäter mit einem Sarg die Treppe herunterkamen. Sebastian drängte sich nach vorn, zu den Carabinieri, die die Leute zurückhielten. Unter ihnen war ein mittelgroßer Mann mit schwarzem Schnauzer.
»Maresciallo Girardi!« Sebastian bahnte sich einen Weg zu ihm. »Was ist passiert?«
»Bitte treten Sie zurück.«
»Was ist passiert?«, fragte Sebastian lauter und schärfer. »Liegt Don Vincenzo dort drin? Ich muss ihn sehen!«
Er wollte zum Sarg, aber der Maresciallo versperrte ihm den Weg. »Bitte behindern Sie uns nicht bei der Arbeit.«
Sebastian drehte sich halb um, als jemand an seinem Arm zog. »Lass uns zum Gemeindehaus gehen, Bastian«, sagte Anna. »Vielleicht erfahren wir dort mehr.«
Sebastian sah dem Sarg hinterher, den die Sanitäter zu einem Krankenwagen auf dem Parkplatz trugen. Dann ergriff er Annas Hand, eilte mit ihr durch die Menge der Pilger und die Treppe hoch.
Auch im Dorf herrschte große Aufregung. Alle Bewohner schienen auf den Beinen zu sein, und viele von ihnen hatten sich vor dem Gemeindehaus eingefunden, wo weitere Carabinieri eine Absperrung eingerichtet hatten. Hinter ihnen, im Eingang des hell erleuchteten Gemeindehauses, sprach Bürgermeister Enrico Corrado mit einem weiteren Uniformierten und gestikulierte immer wieder.
»Hier kommen wir nicht durch«, sagte Anna an Sebastians Seite. »Dort drüben! Schwester Luisa.«
Die beleibte Nonne stand abseits des Kordons, nicht weit vom Gelände mit den Baumaschinen entfernt. Die Sanitäter hatten dort Tische aufgestellt, und ein junger Mann behandelte mehrere Kratzer in Luisas Gesicht. Als sich Sebastian und Anna näherten, drückte er ihr gerade ein letztes Pflaster auf die Wange.
»Schwester Luisa …«
»Oh, Dottoressa Ranzani …« Die Nonne wirkte niedergeschlagen. »Dies ist der traurigste Tag meines Lebens.«
»Was ist geschehen?«, stieß Sebastian hervor.
»Don Vincenzo … Sie haben ihn nicht zu Raffaele gelassen. Und als der Junge fortgebracht wurde … Gott verließ ihn.«
»Was soll das heißen, verdammt? Wen hat Gott verlassen?« Sebastian schrie fast, und die Nonne zuckte zusammen. Der Sanitäter warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, packte dann aber seine Sachen zusammen und ging.
»Bitte, Signor Vogler, es ist nicht meine Schuld«, sagte die Nonne fast wie ein Kind. »Ich …«
»Was ist passiert ?«
Anna warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Er meint es nicht so, Schwester Luisa. Don Vincenzos Tod geht uns allen nahe.«
»Gott verließ ihn«, wiederholte die Nonne und sprach zu Anna. Drei Pflaster klebten in ihrem runden Gesicht, und neben ihnen zeigten sich einige kleinere Kratzer. »Der Teufel ergriff von ihm Besitz und brachte ihn sogar dazu, mich anzugreifen! Er nahm die Stühle und zertrümmerte alles, und dabei heulte er wie … wie …« Schwester Luisa suchte nach geeigneten Worten.
»Wie ein Wahnsinniger?«, fragte Sebastian, der etwas ahnte.
»Ja, Signor Vogler, wie ein Wahnsinniger. Er muss vom Teufel besessen gewesen sein. Oh, ein so frommer Mann … Vielleicht war es der Schmerz über die Trennung von Raffaele. Er hatte den Jungen so sehr in sein Herz geschlossen. Und als man ihn einfach fortbrachte … Der Schmerz muss dem Teufel eine Tür in seine Seele geöffnet haben.«
»Er ist übergeschnappt, Anna«, sagte Sebastian. »Wie die anderen.«
»Schließlich nahm er ein Messer aus der Küche und stieß es sich ins Herz«, fuhr die Nonne fort und starrte bei diesen Worte ins Leere. »Geradewegs ins Herz.«
»Wieder ein Messer«, murmelte Sebastian.
»Aber bevor er starb …« Schwester Luisa griff unter ihre Kutte, als ihr plötzlich etwas einfiel. Sie holte einen zusammengefalteten Zettel hervor und reichte ihn Sebastian. »Das gab mir Don Vincenzo heute Nachmittag, kurz bevor er …« Sie beendete den Satz nicht.
Sebastian nahm den Zettel entgegen, entfaltete ihn und las die wenigen Worte zusammen mit Anna.
Lieber Signor Vogler , stand dort in krakeliger Handschrift auf Italienisch, ich weiß nicht, ob ich noch einmal mit Ihnen sprechen kann, und deshalb schreibe ich dies. Es gibt jemanden, der mehr weiß, der Ihnen vielleicht helfen kann. Ein alter Freund von mir. Anatoli Pawel Pawlowitsch. Er
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