Äon - Roman
zuzuschlagen.«
Fasziniert beobachtete Singerer, wie die auf den Rücken gebundenen Arme des Mannes bebten. Erste Risse bildeten sich im Stoff der Zwangsjacke, und nach einigen Sekunden gab sie ganz nach. Sennstett bekam die Arme frei, zerrte an den Fetzen der Jacke … und verharrte erneut. Langsam drehte er sich um und sah zur Panzerglaswand, die ihn von der anderen Hälfte des Raums trennte.
»Nicht einmal ein durchtrainierter Athlet wäre in der Lage, die Jacke zu zerreißen«, sagte Dr. Ritter.
Sennstett lief los, genau auf die Barriere zu, und aus einem Reflex heraus wich Singerer einen Schritt zurück. Direkt vor ihm prallte der Mann gegen die Wand, die natürlich nicht nachgab. Es bildeten sich nicht einmal Risse in ihr.
Arnim Sennstett trat zurück, nahm Anlauf und warf sich erneut gegen die Wand.
»Puls steigt über zweihundert«, sagte einer der Assistenten. »Atemfrequenz nimmt weiter zu.«
Ein drittes Mal prallte der Mann gegen die Wand. Blut strömte aus Platzwunden im Gesicht, als er zurücktaumelte. Er senkte den Kopf, und für einige Sekunden blieb er völlig reglos
stehen. Als er wieder aufsah, war sein Gesicht zu einer Grimasse geworden, und ein leises Wimmern kam von seinen zitternden Lippen. Er hob die Hände, streckte die Zeigefinger, richtete sie auf den Kopf und rammte sie sich in die Augen. Blut spritzte, und der Mann fiel zu Boden.
Dr. Ritter winkte den beiden Assistenten zu, die sofort zur Panzerglaswand sprangen, sie öffneten und zu Arnim Sennstett eilten, der mit zuckenden Beinen am Boden lag. Sie gaben ihm ein Sedativ, legten ihn auf die Liege und brachten ihn fort.
»Haben Sie genug gesehen?«, fragte Dr. Ritter.
»Ja«, erwiderte Singerer betroffen.
Als sie einige Minuten später die antiseptische Schleuse passiert hatten und die Schutzkleidung ablegten, fragte Singerer: »Was ist mit einem Gegenmittel? Kann man die Kontaminierten irgendwie vor dem Ausbruch des Wahnsinns schützen?«
»Arnim Sennstett wurde mit einem Mittel behandelt, das die Erregungsübertragung im Gehirn reduziert«, antwortete Dr. Ritter. »Es dämpft die Neurotransmitter. Normalerweise.«
»Er hat versucht, sich umzubringen …«, murmelte Singerer.
»Wie viele andere vor ihm.«
»Ja.« Roland Singerer streifte die Anzugjacke über und rückte die Krawatte zurecht. »Ich kenne den Weg, Doktor …«, sagte er, als Ritter ihm zum Lift folgen wollte. An der Tür blieb er noch einmal stehen. »Haben Sie erste Hinweise darauf, wie die Kontamination zwischen Kontaminierten und Unbeteiligten erfolgt?«
»Wir arbeiten daran«, erwiderte der schmächtige Arzt.
Singerer nickte ernst. »Ich weiß, Doktor. Und ich weiß auch, dass Sie verdammt gute Arbeit leisten. Setzen Sie Ihre Bemühungen fort und geben Sie mir Bescheid, wenn Sie mehr
Leute und Material brauchen. Sie bekommen alles, was notwendig ist. Finden Sie ein Gegenmittel.«
»Ich halte Sie auf dem Laufenden«, sagte Dr. Ritter.
Singerer betrat den Lift und fragte sich während der kurzen Fahrt ins Erdgeschoss der Klinik, wie viele lebende Zeitbomben es in Deutschland und anderen westlichen Ländern gab.
25
Riga
W as war im Taxi mit dir los, Bastian?«, fragte Anna in ihrem Hotelzimmer.
Sebastian stellte das Gepäck ab und ging langsam durch das große Zimmer. Beigefarbene Wände, die Vorhänge goldgelb und weich wie Samt. Eine goldgelbe Steppdecke lag auf dem Bett, und auch sie war sehr weich, schien nur darauf zu warten, einen oder zwei Körper zu wärmen. Er stellte sich vor, wie er mit Anna darunter lag, eng umschlungen.
»Hast du mich gehört, Sebastian?«
Er drehte sich langsam zu ihr um und sah die Sorge in ihren großen dunklen Augen. »Ich habe ihn gesehen«, sagte er. »Simon Krystek. Ich habe ihn im Foyer gesehen.«
»Wann?«, fragte Anna erstaunt und stellte ihre Handtasche neben den Fernseher. »Wo?«
»Er ist vor einigen Stunden hier eingetroffen«, sagte Sebastian. Er hörte, dass er die Silben ein wenig in die Länge zog. Es fiel ihm schwer, ganz ins Jetzt zurückzukehren und sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. »Ich bin seinem … Schatten aus der Vergangenheit begegnet. Er kam ganz dicht an mir vorbei. Und er sah mich an, fast so, als könnte er mich sehen.«
»Bastian …« Anna kam einige Schritte näher, und Sebastian
bemerkte den Glanz ihres schwarzen Haars im Licht der Lampen. »Wovon redest du da?«
»Meine Wahrnehmungen verändern sich, Anna.« Die Worte kamen jetzt schneller. »Manchmal scheint sich die Zeit
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