Äon - Roman
hinunterzuschlucken. Vermutlich wollte Singerer ihn provozieren.
Er sah zu Rolf, der am anderen Ende des Tisches saß. Tasten klickten unter seinen Fingern. Ein USB-Kabel verband das
Notebook mit dem Präsentationscomputer, der Teil des Netzwerks der Redaktion war.
»Schmierblatt, wie?«, erwiderte Kessler langsam. Er lehnte sich zurück und faltete betont ruhig die Hände im Schoß. »Sind Sie gekommen, um mich und meine Mitarbeiter zu beleidigen?« Er deutete auf Rolf. »Das bringt Ihnen natürlich eine Anzeige ein. Verstoß gegen die Datenschutzbestimmungen. Unbefugtes Eindringen in ein fremdes Computersystem. Informationsdiebstahl. Oh, Sie haben Glück, dass Arroganz nicht strafrechtlich verfolgt wird. Sonst wären Ihnen zehn Jahre Knast sicher.«
»Möchten Sie, dass die heutige Ausgabe von Zack! die letzte war?«, fragte Singerer ungerührt. »Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ich Ihnen weitere Publikationen untersagen würde?«
»Wenn ich mich recht entsinne, gibt es in diesem Land so etwas wie Pressefreiheit.«
Singerer beugte sich ein wenig vor. »Es gibt auch Notstandsgesetze. Ich könnte mich darauf berufen.«
Wieder regte sich Sorge in Kessler. »Sie meinen Gesetze, die sich auf einen nationalen Notstand beziehen …«
»Der durchaus gegeben ist, wie Sie in Ihrem heutigen Artikel geschrieben haben.« Singerer stand wieder auf und ging langsam um den Tisch herum. Als er Rolf erreichte, klopfte er ihm kurz auf die Schulter, setzte dann den Weg fort und näherte sich Kessler von der anderen Seite des Tisches. Dicht neben dem Chefredakteur setzte er sich auf die Tischkante und zwang Kessler so, zu ihm aufzusehen. »Wir haben es mit einer Welle scheußlicher Morde und Anschläge zu tun. Unbekannte Terroristen missbrauchen Unschuldige für ihre Zwecke, und Sie leisten ihnen Vorschub durch einen Artikel, der die Bevölkerung
verunsichert. Man könnte Ihnen so etwas wie Sympathisantentum vorwerfen.«
Kessler musterte den BND-Mann und versuchte, in seinem Gesicht irgendetwas zu erkennen. Die grauen Augen blickten kühl auf ihn herab. »Das ist Unsinn.«
»Glauben Sie? Ein Untersuchungsrichter sähe das vielleicht anders.«
Kessler lehnte sich zurück. »Was wollen Sie?«
»Wo ist der USB-Stick, den Sie in Torensens Wohnung an sich genommen haben?«, fragte Singerer sofort.
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen …«, sagte Kessler, während in seinem Innern alle Alarmsirenen heulten.
»Sie haben gestern mit einem gewissen Sebastian Vogler telefoniert, der sich bis heute Morgen in Kalabrien aufhielt, Kessler. Er ist in Ihrem Auftrag unterwegs nach Riga.« Er sah auf die Armbanduhr. »Inzwischen dürfte er dort eingetroffen sein. Er soll dort einen gewissen Simon Krystek suchen, und wie es der Zufall will, suchen wir ebenfalls nach ihm.«
Kessler kniff die Augen zusammen. »Sie lassen mein Telefon abhören?« Hinter seiner Stirn jagte ein Gedanke den anderen.
»Ich könnte Sie auf der Stelle verhaften, Kessler«, sagte Singerer mit kalter Schärfe. »Sie haben am Tatort eines Mordes wichtiges Beweismaterial unterschlagen, bevor die Polizei eintraf. Es könnte sogar auf eine Anklage wegen Komplizenschaft hinauslaufen. Welche Informationen enthielt der Stick sonst noch?«
Wolfgang Amadeus Kessler seufzte tief. »Sie wissen bereits alles«, sagte er. »Der USB-Stick enthielt Torensens aktuelle Ermittlungsdaten,
mehr nicht. Die Fälle mit starken selbstzerstörerischen Elementen. Die Sache mit Krystek. Bilder.«
»Und das soll ich Ihnen glauben?«
»Im Ernst. Der Stick liegt in meinem Büro. Sie werden feststellen, dass er genau die Daten enthält, die ich Ihnen genannt habe.« Kessler wollte aufstehen, um den USB-Stick zu holen.
»Wer ist Krokus?«, fragte Singerer.
Wolfgang Kessler sank in den Sessel zurück. »Krokus?«
Singerer drehte sich halb um. »Rolf?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf, ohne vom Notebook aufzusehen.
»Wie ich schon sagte: Rolf hat sich mehrmals in Ihrem Computersystem umgesehen. Jede Aktivität hinterlässt Spuren darin, und gelöschte Daten sind nur selten wirklich gelöscht. Wer ist Krokus?«
Kessler hob die Hände. »Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Er ist ein Informant und setzt sich mit uns in Verbindung, wenn er etwas zu verkaufen hat.«
»Er? Also ein Mann. Was hat er Ihnen als Letztes verkauft?«
Kessler zögerte.
»Vergeuden Sie nicht meine Zeit«, sagte Singerer, und die Worte klangen seltsam, weil er ganz ruhig sprach. »Heraus
Weitere Kostenlose Bücher