Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
Vom Netzwerk:
Himmel, die Berge und das Meer. Die alte lettische Religion kennt drei zentrale Gottheiten: Dievs, Māra und Laima. Der Gott Dievs repräsentiert die kollektive Energie des Universums sowie das Phänomen des Denkens. Die Göttin Māra verkörpert als › Mutter Erde ‹ die materielle Welt; sie schenkt und nimmt das physische Leben. Die Schicksalsgöttin Laima gibt den Menschen ein vorherbestimmtes Schicksal mit auf den Weg, das jedoch durch gute oder schlechte Gedanken und Taten beeinflusst werden kann.«
    »Du weißt, was ich von solchen Dingen halte«, erwiderte Sebastian und sprach mit einem Nachdruck, der ihn selbst
überraschte. »Der Mensch hat Gott erfunden, weil er die Welt, in der er lebte, nicht verstand. Heute verstehen wir die Welt, oder den größten Teil von ihr. In Zukunft wird Religion immer mehr an Bedeutung verlieren.«
    »Glaubst du?« Anna klang fast traurig. »Was ist mit Herz und Seele? Was ist mit der Frage nach dem Sinn , Bastian? Und wer spendet dem Sterbenden Trost?«
    Der Kellner kam und brachte das Essen. Sebastian sah auf sein Steak hinab, und eine seltsame Unruhe erfasste ihn. Messer und Gabel, das Stück Fleisch, dick und braun …
    »Guten Appetit«, sagte Anna und begann mit dem Gemüse auf ihrem Teller.
    Und wer spendet dem Sterbenden Trost ?, wiederholte Sebastian in Gedanken und schnitt in das Steak. Es war nur kurz angebraten, und Blut quoll aus dem rohen Innern …
     
    Das Mädchen hustet und spuckt Blut, das rote Flecken auf dem weißen Stein bildet. Aber nur für zwei oder drei Sekunden, denn der Regen spült es sofort weg. Katrin heißt sie und ist zwölf Jahre alt, drei Jahre älter als Nikolaus. Er kniet neben ihr, einige Meter abseits der Gestalten, die im Unwetter den Hang hinaufstapfen, einige von ihnen in Kapuzenumhänge aus Leder gehüllt, andere nur in zerrissenen Hosen und Hemden. Karren rumpeln vorbei, von Eseln gezogen, die ebenso wie die meisten Kinder der Erschöpfung nahe sind.
    »Fass sie nicht an!«, sagt Hubertus. »Komm ihr nicht zu nahe! Sie hat die Schwindsucht!«
    Nikolaus sieht den Jungen an, der in den vergangenen Wochen zu seiner rechten Hand geworden ist, und er bemerkt die Furcht in seinen Augen. Tadelnd schüttelt er den Kopf und streicht dem Mädchen über die fieberheiße Stirn. Er weiß, dass er sich nicht anstecken kann, denn er hat
eine Mission zu erfüllen, im Auftrag von Jesus Christus. Katrin hustet erneut, noch mehr Blut.
    »Ruf einen Heiler, Hubertus«, sagt er. »Und sag den anderen, dass wir die Zelte aufschlagen. Es wird ohnehin bald dunkel.«
    Der andere Junge - fast fünfzehn ist er, groß und noch immer stark, trotz der Mühen, die sie hinter sich haben - dreht sich um und eilt fort.
    »Muss ich sterben?«, fragt Katrin mit rauer Stimme. Regen klatscht in ihr Gesicht, und kalter Wind faucht über sie hinweg. »Ich möchte das Meer sehen, wie es sich teilt …«
    Nikolaus berührt sie erneut an der Stirn. »Du wirst noch mehr sehen«, erwidert er. »Ich werde dir Jerusalem zeigen, wenn wir das Heilige Land von den Sarazenen befreit haben.«
    Das Mädchen lächelt, und Nikolaus nickt ihm zu. Dann richtet er sich auf, winkt einige der größeren Jungen heran und lässt Katrin von ihnen zum ersten Zelt bringen, das in der Nähe aufgebaut wird. Er wendet sich ab und stapft weiter, durch Regen und Wind, denkt dabei an die vielen Toten, die sie bereits zu beklagen haben. Herr, welchen Preis verlangst du von mir ?, denkt er und blickt hinauf zum mehr als zweitausend Meter hohen Mont-Saint-Cenis-Pass. Vor fast tausendfünfhundert Jahren, so weiß er, war Hannibal über jenen Pass gegen Rom gezogen …
     
    Das Messer in der einen Hand und die Gabel in der anderen, starrte Sebastian auf das Blut, das aus dem Steak kam. Er sah es nicht nur auf dem Teller, sondern auch auf dem grauweißen Felsen, bevor der Regen es fortwusch, und als er den Kopf hob und Annas Blick begegnete, sah er Katrins schmales, ausgezehrtes Gesicht. Annas Lippen bewegten sich, aber er hörte nur ein dumpfes Brummen, das alle Stimmen im Restaurant in sich vereinte. Doch in diesem Brummen gab es eine Lücke, geschaffen vom Schweigen eines ganz bestimmten Mannes.

    Er saß auf der anderen Seite, allein an einem Fenstertisch, wirkte ruhig und gelassen. Doch sein Blick war seltsam intensiv. Sebastian fühlte sich von ihm durchbohrt, und für einige Sekunden konnte er nicht atmen.
    »Er ist da«, brachte er hervor. »Er sitzt dort drüben. Simon Krystek.«
    Anna sah zu dem Mann

Weitere Kostenlose Bücher