Äon - Roman
zu dehnen, und ich sehe normale Bewegungen ganz langsam und in allen Einzelheiten, in Details wie unter dem Mikroskop. Als wir das Hotel betraten, habe ich Personen gesehen, die sich früher in diesem Gebäude aufgehalten haben. Geister der Vergangenheit, manche von ihnen hundert und mehr Jahre alt. Einige von ihnen sehr deutlich, andere weniger. Unter ihnen war Krystek. Er ist hier. Und ich weiß genau, dass wir ihm begegnen werden.« Sebastian setzte sich aufs Bett. »Anna … Was geschieht mit mir?«
Anna zögerte kurz, setzte sich dann neben ihn und schaute ihn an. Einige Sekunden schien sie nach den richtigen Worten zu suchen. »Wir haben zu Anfang des Fluges kurz darüber gesprochen, erinnerst du dich? Ich könnte einige medizinische Kollegen hier in Riga um Hilfe bitten. Bei einer neurologischen Untersuchung finden wir vielleicht heraus, was …«
Sebastian stand ruckartig auf, ging zum Fenster und sah nach draußen. Es war noch hell, aber einzelne Flocken fielen aus einer dichten Wolkendecke und kündigten mehr Schnee an. Auf der Straße vor dem Hotel waren Menschen unterwegs, kehrten von der Arbeit heim, erledigten Einkäufe, trafen sich, sprachen miteinander. Sebastian fühlte sich von ihnen getrennt, und die Distanz wuchs mit jeder verstreichenden Sekunde.
Als er sich umdrehte, gewann er den Eindruck, nur genau hinsehen zu müssen, um erneut Geister zu beobachten, jene Männer und Frauen, die vor ihnen in diesem Zimmer gewohnt hatten.
»Nein«, sagte er und meinte damit sowohl die Visionen der Vergangenheit als auch Annas Vorschlag. Er erinnerte sich an das kurze Gespräch im Flugzeug. »Du hast selbst gesagt, dass mit meinem Gehirn alles in Ordnung ist. Untersuchungen im Krankenhaus wären Zeitverschwendung.«
»Bei der letzten Untersuchung in Reggio ging es uns vor allem um den Tumor, Bastian«, erwiderte Anna. Sie saß noch immer auf dem Bett. »Vielleicht gibt es in deinem Gehirn strukturelle oder biochemische Veränderungen. Deine veränderten Wahrnehmungen sind ein Indiz. Bei meiner Arbeit habe ich es oft mit Fällen von Halluzination zu tun, bei denen …«
»Es sind keine Halluzinationen, Anna. Was ich sehe, ist Teil der Realität.«
»Das glaubst du. Auch meine Patienten sind davon überzeugt. Das Gehirn ist die Basis; das Bewusstsein wächst daraus. Wenn das Gehirn nicht mehr richtig funktioniert, wenn zum Beispiel die Informationsverarbeitung durcheinandergeraten ist, so sind oft Halluzinationen die Folge, vermeintliche Wahrnehmungen, die aber keine sind. Schizophrene glauben, Stimmen zu hören, aber wir wissen, dass sie Einbildung sind.«
»Ich bin nicht schizophren«, sagte Sebastian scharf.
»Das habe ich auch nicht behauptet. Aber du bist krank.«
Irrationaler Zorn wogte plötzlich in Sebastian, und er stand mit geballten Fäusten da, kämpfte ihn mühsam nieder. Er begann zu zittern. »Das Gehirn ist die Basis?«, brachte er hervor. »Das Bewusstsein wächst daraus? Was ist mit der Seele passiert? Du bist doch sonst so religiös …«
Anna stand auf und kam näher. Sie trat ganz dicht an ihn heran und hob die Hände zu seinen Oberarmen, kleine, schmale
Hände, die nicht annähernd so kräftig waren wie seine. Sie erschien ihm fragil, zart wie eine Blume. Er stellte sich seine Hand an ihrem Hals vor … Vielleicht hätte er ihr mit nur einer Hand das Genick brechen können.
Der Gedanke erschreckte Sebastian, und das Zittern wurde stärker. »Anna … Vielleicht sollte ich doch ein Beruhigungsmittel nehmen.«
Sie öffnete ihre Reisetasche und kramte darin. Sebastian sank wieder aufs Bett und fühlte sich elend. »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«, sagte er leise.
»Was?« Anna stand da, mit einer giftgrünen Tablette in der einen Hand und einem Glas Wasser aus dem Bad in der anderen.
»Von Robert Louis Stevenson«, sagte Sebastian. »Ein kurzer Roman über eine geplagte Seele. Das Gute und Böse in einer Person. Dr. Jekyll entwickelt ein Elixier, dessen Einnahme eine Trennung dieser beiden Aspekte seines Selbst ermöglicht, und das Ergebnis ist Mr. Hyde, die dunkle Seite seines Ichs, die keine moralischen oder ethischen Schranken kennt. Vorhin im Taxi …«
»Hast du Mr. Hyde in dir gespürt, als du den Sicherheitsgurt lösen und aus dem Wagen springen wolltest?«, fragte Anna.
Sebastian sah zu ihr hoch und dachte an das schreckliche Bild, wie er den Dolch an Annas Hals setzte. Gehörte auch das zu einer - erweiterten - Realität? Hatte er etwas gesehen, das nicht wie im Fall der
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