Aeon
Die Wälder waren nicht als raue, unwirtliche Umgebung gedacht. Wenn es schneite, dann wenig; und es regnete gerade so viel, wie für die Vegetation erforderlich war.
Die ersten Tage hatte er friedlich verbracht und sich gemächlich eine handliche Angelrute gebastelt. Da er die Berichte der amerikanischen Biologen über die vierte Kammer kannte, wusste er, dass es ausreichend Würmer und Maden als Köder gab. Seine Besorgnis hatte sich bald gelegt, sodass er sich fragte, warum er nicht schon viel früher gegangen war.
Am fünften Tag entdeckte er Anzeichen, dass er nicht allein war in dieser Gegend. Eine russische Verpackung und eine amerikanische Plastikdose verrieten, dass wenigstens noch ein anderer Russe bis hierher vorgedrungen war. Die Entdeckung störte ihn wenig. Es war reichlich Platz für alle hier.
Am siebten Tag traf er am Rand einer grasbedeckten Lichtung auf einen Russen. Es war ein fremdes Gesicht, aber der Soldat erkannte Mirski und zog sich blitzschnell in den Wald zurück.
Am achten Tag sahen sie sich wieder; der Soldat stand am anderen Ufer eines Teichs und rannte nicht weg.
»Allein, was?«, fragte der Soldat.
»Bis jetzt schon«, antwortete Mirski.
»Aber du bist der Kommandant«, sagte der Soldat vorwurfsvoll.
»Gewesen«, erwiderte Mirski. »Beißen die Fische hier?«
»Nicht besonders. Es gibt zwar überall Fliegen und Mücken hier, aber sie beißen nicht.«
»Ist mir auch aufgefallen.«
»Warum wohl?«
»Gutes Design«, meinte Mirski.
»O b’s hier schneit?«
»Glaub schon. Einmal im Jahr oder so«, erwiderte Mirski. »Aber es wird nicht recht kalt. Nicht wie in Moskau.«
»Wen n’s nur schneien würde – ich mag Schnee«, sagte der Soldat. Mirski nickte, und dann trafen sie sich auf einer Seite des Teichs und wanderten gemeinsam durch die Wälder auf der Suche nach einem besseren Angelplatz.
»Die Amerikaner würden uns Huckleberry Finn und Tom Sawyer nennen«, bemerkte der Soldat, als sie ihre Angeln in einen Bach hängten. »Die Amerikaner sind gar nicht mehr so schlimm wie auf der Erde. Ich wollte schon überlaufen.«
»Und warum hast d u’s nicht getan?«, fragte Mirski.
»Ich wollte allein sein, ohne Menschen um mich herum. Aber es stört mich nicht, dass du hier bist.« Der Soldat ruckte an seiner Rute und hoffte, damit vielleicht eine Forelle zu überlisten. »Gibt mir neuen Glauben an die Menschheit. Sogar ein General will nichts mehr wissen von alledem und haut in den Sack.«
Der Soldat, der Mirski seinen Namen nicht verriet, war vor Wochen aus dem Lager abgehauen und wusste natürlich nichts von Mirskis Tod in der Bibliothek und so weiter. Und Mirski erzählte ihm nichts.
Mirski fühlte sich allmählich wieder wie ein Mensch und kam sich nicht mehr wie ein Ungetüm oder Gespenst vor. Es war herrlich, Zeit zu haben und einen Wassertropfen auf einem Blatt zu beobachten oder die Wellen, die ein Fisch schlug, wenn er nach einem Insekt schnappte. Es spielte keine Rolle mehr, wer er war, sondern dass er war.
Zwei weitere Tage verstrichen. Allmählich fragte Mirski sich, ob man nach ihm suche. Mit hochauflösenden Teleskopen könnte man sie leicht sehen, und mit Infrarotsensoren könnte man sie sogar unter Bäumen und Büschen aufspüren. Inzwischen waren die Zampoliten schätzungsweise wieder frei und bauten ihre Vormacht aus – falls Pletnew und die anderen seine Warnung in den Wind geschlagen hätten.
Es interessierte ihn nur mäßig, was sich zugetragen hatte.
Was er am allermeisten vermisste, das war die Nacht. Er hätte alles gegeben für ein paar stockfinstere Stunden, wo man die Augen schließen könnte und nichts sehen würde, nicht mal das feine Schimmern des gedämpften Waldlichts durch die Lider. Darüber hinaus vermisste er den Mond und die Sterne.
»Glaubst du, es lebt noch jemand auf der Erde, den wir kennen?«, fragte der Soldat eines Morgens, als sie über einem kleinen Feuer eine Forelle brieten.
»Nein«, gab Mirski zur Antwort.
Der Soldat legte den Kopf schräg und schüttelte ihn dann ungläubig. »Meinst du nicht?«
»Sehr unwahrscheinlich«, erwiderte Mirski.
»Nicht mal jemand von der Führungsspitze?«
»Vielleicht. Aber von denen hab ich keinen richtig gekannt.«
»Mmmm«, machte der Soldat. Als wäre das noch relevant, fragte er dann: »Sosnitski, hast du den gekannt?«
»Nicht näher.«
»Das war ein guter Mann«, antwortete der Soldat, der nun die Forelle vom Feuer nahm und mit seinem Messer fachmännisch zerlegte. Er
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