Aeon
Programmiersprachen unbekannt waren, können wir erst seit sechs Monaten lesbare Texte und sinnvolle Darstellungen herausholen. Wie sich gezeigt hat, ist die Bibliothek in der nächsten Kammer noch größer, sodass wir uns derzeit auf sie konzentrieren. Aber mir ist diese hier nach wie vor lieber. Es gibt eine umfangreiche Präsenzsammlung im vierten Geschoss. Dort habe ich zunächst meine Forschungen aufgenommen, und dort wirst auch du zugange sein.«
»Ich komme mir vor wie auf der Mary Celeste .«
»Dieser Vergleich wurde schon öfter angestellt«, meinte Lanier. »Jedenfalls gilt hier wie überall die Regel: Alles lassen, wi e’s ist. Die Archäologen sind gerade erst damit fertig, erste Eindrücke zu sammeln, und es ist mit ihnen nicht gut Kirschen essen. Hin und wieder sind wir freilich gezwungen, mit diesem Grundsatz zu brechen, wenn wir wichtige Reparaturen vornehmen oder mit den Computern hantieren müssen. Aber auch dann ist Zurückhaltung geboten. Falls dieser Stein eine Mary Celeste ist, dann können wir’s uns nicht leisten, die Gründe dafür nicht herauszufinden.«
Im vierten Geschoss betraten sie einen Saal mit Lesekabinen, die jeweils mit einem Sichtgerät und einem grauen, flachen, in den Tisch eingelassenen Bedienungsfeld ausgestattet waren. Einer der Tische war versehen mit einer jüngst importierten Tensorlampe, die am neuen Stromnetz hing. Lanier zog für Patricia einen Stuhl vor, und sie nahm Platz.
»Ich komm gleich wieder«, sagte er, ging zur gegenüberliegenden Wand, verschwand hinter einer Tür und ließ sie allein. Sie betastete das Sichtgerät auf dem Tisch. Für Video oder Mikrofilm? Das wusste sie nicht. Der Monitor war flach und schwarz, keinen Zentimeter dick.
An dem Stuhl war etwas eigenartig. Eine kleine, harte Rolle war flach mitten entlang der Sitzfläche montiert und kam nun störend zwischen den Pobacken zu liegen. Entweder fehlte die Polsterung, die diese Rolle abdeckte, oder der Stuhl passte sich selbsttätig an, wenn ans Netz angeschlossen.
Patricia blickte nervös durch die leeren Kabinenreihen und versuchte, sich die einstigen Benutzer des Lesesaals vorzustellen. Als Lanier zurückkam, war sie geradezu froh. Ihre Hände zitterten.
»Gespenstisch hier«, sagte sie mit einem zaghaften Lächeln.
Er hielt ihr ein kleines Buch mit trübem Plastikeinband entgegen. Sie blätterte darin. Das Papier war dünn und fest, die Sprache Englisch. Das Schriftbild war jedoch ungewohnt – zu viele Serifen. Sie schlug die Titelseite auf.
»Tom Sawyer«, las sie vor, »von Samuel Longhorne Clemens – Mark Twain.« Das Erscheinungsdatum war 2110. Sie schloss das Buch, legte es nieder und schluckte schwer.
»Und?«, fragte Lanier behutsam.
Sie sah stirnrunzelnd zu ihm auf. Dann dämmerte es ihr. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber machte ihn wieder zu.
»Du hast dich gefragt, warum ich so müde aussehe«, sagte Lanier.
»Ja.«
»Verstehst du’s jetzt?«
»Wegen dieser … Bibliothek?«
»Zum Teil«, antwortete er.
»Er ist aus der Zukunft. Der Stein ist aus unsrer Zukunft.«
»Das steht noch nicht fest«, sagte er.
»Aber genau darum bin ich hier – um das klären zu helfen.«
»Da sind noch weitere Fragen, ebenso rätselhafte, die vielleicht alle miteinander zu tun haben.«
Sie schlug das Buch wieder auf. »Herausgeber Greater Georgia General in Zusammenarbeit mit Pacific Harpers.«
Er griff nach dem Buch und nahm es ihr aus der Hand. »Das reicht für heute. Gehen wir raus! Du kannst dich kurz ausruhen, oder wir machen ein paar Stunden im Stützpunkt der Sicherheitskräfte Pause.«
»Nein«, entgegnete sie. »Ich will weiter.« Sie schloss für einen Moment die Augen. Er brachte das Buch an seinen Regalplatz zurück, kam dann wieder und führte sie ins Erdgeschoss hinunter.
»Der Eingang zur U-Bahn ist nur zwei Blöcke entfernt von hier«, sagte er. »Wir können zu Fuß gehen. Bewegung macht ’nen klaren Kopf.«
So folgte sie ihm durch die Ecke des Parks. Was sie an Gebäuden und Schildern in allen Sprachen der Welt sah, das registrierte sie nicht, denn sie war längst nicht mehr aufnahmefähig.
Sie passierten ein halbmondförmiges Tor und gingen zum U-Bahnhof hinunter.
»Du sagst, der Stein ist nicht aus der Zukunft«, bemerkte Patricia.
»Nun, zumindest nicht aus unserer Zukunft«, korrigierte Lanier. »Vielleicht gar nicht aus unserem Universum.«
Ihr war heiß. Sie blinzelte rasch und wusste nicht, ob sie lachen oder heulen sollte.
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