Aeon
Tunnel verschlossen war. Wiederum öffnete Lanier mit seinem Schlüssel ein Tor, und sie fuhren in die zweite Kammer.
Die Rampe, die vom Tunnel hinunterführte, war beidseitig mit Stützmauern verstärkt. Zwischen den Mauern war wiederum ein Zaun gezogen, und neben dem nächsten Tor stand ein Wachhäuschen. Drei Marinesoldaten in schwarzem Overall salutierten vor dem Wachhaus, als der Laster auf sie zurollte und auf dem Pflaster der Rampe knirschend zu stehen kam. Lanier zog die Feststellbremse an, stellte den Motor ab und schwang sich aus dem Führerhaus. Patricia blieb sitzen und starrte auf das Bild, das sich ihren Augen bot.
Hinter der Rampe lag ein zwei Kilometer breiter Park mit Baumgruppen und zahlreichen breiten, flachen, hellen Betongebilden, die an dicke Fundamente erinnerten. Hinter dem Park schloss sich ein länglicher See oder Fluss von etwa einem Kilometer Breite an, der in Ost- und Westrichtung um die ganze Kammer verlief. Eine Hängebrücke mit schlanken, hohen Türmen spannte sich zwischen massiven Betonpfeilern über das Wasser.
Die Brücke zeigte zu einer Stadt.
Es hätte Los Angeles sein können an einem sehr klaren Tag oder eine x-beliebige moderne Stadt der Erde, wovon sie sich nur durch ihren übertrieben surrealistischen Charakter unterschied. Sie war größer, ehrgeiziger und geordneter, architektonisch reifer . Verteilt auf die gesamte Stadt ragten da die größten Bauwerke auf, die Patricia je zu Gesicht bekommen hatte. Leicht vier Kilometer hoch, glichen sie gewaltigen Kronleuchtern aus Beton, Glas und glänzendem Stahl. Jede Facette des nächststehenden Lüsterbauwerks war so groß wie ganze Gebäude dazwischen. Das Lüsterbild wirkte noch authentischer, als Patricia den Blick hob und sah, dass solche Gebilde auch von der Decke der Kammer hingen. Über die zwei Schichten Atmosphäre und fünfzig Kilometer wirkte die Stadt wunderbar unwirklich – wie ein Modell in staubigen Museumsvitrinen.
Augen und Kopf rollten hin und her, als verfolgte Patricia ein langsames Tennismatch.
»Guten Morgen, Mr. Lanier«, sagte der diensthabende Officer, der näher trat, um einen Blick auf sein Abzeichen zu werfen. »Ist sie neu?«
Lanier nickte. »Patricia Vasquez. Mit unbeschränktem Zugang.«
»Ja, Sir. General Gerhardt kündigte gestern Ihren Besuch an.«
»Und tut sich hier was?«, fragte Lanier.
»Mitchells Erkundungstrupp durchsucht gerade das K-Mega bei dreißig Grad und sechs Ka-em.«
Lanier beugte sich ins Führerhaus. »Mega heißen die großen Gebäude«, erklärte er. Patricia schirmte mit der Hand die Augen vor dem Röhrenlicht ab, um besser zur anderen Seite der Kammer sehen zu können. Sie bemerkte Grünflächen und Teiche und Straßenzüge – angelegt in konzentrischen Kreisen und in Rechtecken.
Von der gegenüberliegenden Wand war sie so weit entfernt wie Long Beach von Los Angeles. Trotz ihrer Größenordnung war die Stadt eindeutig Menschenwerk.
Lanier trat aufs Trittbrett und fragte, ob sie sich vor der Weiterfahrt die Beine vertreten möchte.
»Wie heißt sie?«, fragte Patricia.
»Alexandria.«
»Habt ihr sie so getauft?«
Lanier schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Fahren wir heute noch das ganze Stück bis zur siebten Kammer?«, fragte sie.
»Wenn du durchhältst.«
»Wie lange bleiben wir hier?«
»Höchstens ein paar Stunden. Du sollst einen Blick auf die Bibliothek werfen, bevor wir weiterfahren.«
»Die Bibliothek?«
»Ja«, erwiderte Lanier. »Einer der Höhepunkte.«
Patricia lehnte sich verblüfft zurück. »Ist das eine verlassene Stadt?«
»Die meisten von uns sind dieser Meinung. Es liegen vereinzelte Meldungen vor, aber das kommt wohl von den Nerven. Von Spuk redet das Sicherheitsteam. Von Gespenstern. Wir haben nie einen lebenden Steinler gefunden.«
»Und tote?«
»Viele. Es gibt Grabstätten in dieser Kammer und in der vierten. Der Zentralfriedhof von Alexandria liegt bei sechsundzwanzig Grad und zehn Kilometern. Verstehst du das Koordinatensystem?«
»Denke schon«, erwiderte Patricia. »Der Winkel von der Achse aus, dann Entfernung in Ka-em von der Kappe. Aber wo liegt null und welche Kappe?«
»Null ist die Brücke und gemessen wird von der Südkappe.«
»Das ist also kein Einweihungsritus – du hast mir keinen Bären aufgebunden. Es haben Menschen den Stein gebaut.«
»Ja«, sagte Lanier.
»Ich weiß«, meinte Patricia mit einem Seufzer. »Du wirst schon sehen.« Sie kletterte aus dem Wagen, streckte sich und rieb sich die Augen.
Weitere Kostenlose Bücher